Alemannias Archivar, Fanbeauftragter und Ticketmanager ist 24/7 für die Schwarz-Gelben da, wie es Geschäftsführer und Sportdirektor Martin Bader im Pratsch-Interview Ende Mai betonte. Bei einer Entlohnung, für die die meisten Kritiker und Ewigbesserwisser sich kaum von ihrer Couch erheben würden. Seit insgesamt 13 Jahren. Höchste Zeit für eine Würdigung.
Es ist Anfang August. Und das Bemühen, mit Lutz van Hasselt ein längeres konzentriertes Gespräch zu verabreden, ist in etwa so aussichtsreich wie der Versuch, mit Alice Weidel eine Charmeoffensive zu gewinnen. Alemannia Aachens Ticketmanager hat Stress. Der Anpfiff zur neuen Regionalligasaison naht. Zum zweiten Mal gilt es, den Zugang zum Tivoli unter komplizierten Pandemiebedingungen zu organisieren. Zunächst müssen die mehr als 2.000 Dauerkartenbesitzer analog den Hygienevorgaben aufs Stadion verteilt werden. Am besten entsprechend allen individuellen Wünschen nach Platz und Sitznachbarn. Außerdem wäre da ja auch noch die Steuerung des Tageskartenverkaufs.
Es gilt Regeln zu berücksichtigen, die durchaus eine drangsalierend geringe Halbwertzeit haben können. So wie die Sache mit der Beschränkung auf nur 1.000 getestete Zuschauer. Diese Vorgabe wird kurz vor dem ersten Anpfiff an der Krefelder Straße von der Landesregierung ebenso schnell wieder einkassiert, wie sie eingeführt wurde. Kaum scheint eine Ecke des komplexen Puzzles fertig zu sein, bricht es gerade an anderer Stelle auseinander. Unzählige an den Nerven zerrende Nachtschichten sind die unvermeidliche Folge. Tageslicht genießt man als Verantwortlicher kaum noch.
Ein Zimmer mit aberhundert historischen Dokumenten
Im Frühjahr 2008 war so etwas eher Science-Fiction. Zu der Zeit drückte die Schwarz-Gelben ein vergleichsweise marginales Anliegen. Knapp ein Jahr zuvor, im September 2007, war Willi Sieprath gestorben. Das legendäre Gedächtnis des Vereins. Seitdem hatte sich keiner erbarmt, die ebenso eigenwillig sortierte wie umfangreich ausgestattete Dokumenten- und Urkundensammlung des Traditionsclubs zu pflegen und weiterzuführen. Man suchte nach einem Mutigen, der sich dieser Aufgabe annehmen wollte. Als Nebentätigkeit oder gar als Hobby. Aber dennoch begeistert und zuverlässig. Sascha Ruf hörte davon. Das spätere Gründungsmitglied der „Kölschen Alemannen“ studentenjobbte damals beim Aachener Tonträgergroßhändler Target.
Und dort hatte er einen Verwaltungsangestellten kennengelernt, der wie gemalt schien für diese Aufgabe: hinreichend alemanniaverrückt, gewappnet mit einer beeindruckend stoischen Ruhe, nicht auf den Kopf gefallen und vor allem mit einem ausgeprägten Faible für Fakten, Daten und Zahlen seines Lieblingsclubs. Immerhin pflegte der Typ bereits eine Internetseite als digitales schwarz-gelbes Archiv. Ruf kontaktierte Jürgen Frantzen, den Fanvertreter im damaligen Aufsichtsrat des Vereins, und gab ihm den Tipp, bei einem gewissen Herrn van Hasselt nachzufragen.
Kürzeste Zeit später hatte der TSV Alemannia Aachen einen neuen Vereinsarchivar. Und Lutz van Hasselt, damals 34 Jahre alt und bis dato Stehplatzgänger, Bier-Connaisseur, Auswärtsbuspassagier und Fanclubkumpel, fand sich plötzlich in einem Zimmer der Alemannia-Geschäftsstelle wieder. Geringfügig entlohnt zwar, aber dafür umgeben von aberhundert historischen Dokumenten: Vereinsmitteilungen, Stadionheften aus allen möglichen Spielstätten, Eintrittskarten, Zeitungsausschnitten, Fotos. Abgelegt in Aktenordnern, Boxen, Schnellheftern und Mappen. Manches wohlgeordnet, manches scheinbar nur verstaut. Nach Willi Siepraths offenbar ganz eigenem Ablageprinzip. Doch für Lutz van Hasselt war es der Garten der Seligkeit.
Keine Liebe auf den ersten Blick
Halt! Solch pastoral-emotionale Begriffe würden Lutz van Hasselt selbst niemals ernsthaft über die Lippen kommen. Das Geblümt-Schnörkelige ist seine Sache nicht. Sein Blick auf die Dinge ist klar, sein Urteil gerne ironisch-distanziert und mit staubtrockenem Humor gewürzt. Demnach würde er seine Beziehung zur Alemannia auch nicht mit dem Etikett „Liebe“ versehen. Ungeachtet jeglicher Emotionalität. Die treue Zuneigung zu seinem Heimatverein entspringt kaum einer heißblütigen Affäre. Sondern vielmehr einer behutsamen Annährung. Keine Liebe auf den ersten Blick. Eher so etwas wie eine arrangierte Hochzeit. Mit seinen Kumpels vom SV Rhenania Richterich als Matchmaker.
Die hatten ihn zum Tivoli geschleppt. Das war zur Saison 1984/1985. Da war Lutz van Hasselt zehn Jahre alt und vorübergehend Fan des Hamburger SV. „Weil der aufgrund seiner internationalen Erfolge in aller Munde war“, gibt er rückblickend zu. Um jedoch gleich hinterherzuschieben, dass das erstens nur von kurzer Dauer gewesen wäre und zweitens „heute überhaupt kein Thema mehr ist.“ Der Besuch des Aachener Fußballdenkmals an der Seite seiner Mannschaftskameraden reichte nicht aus, um ihn zum Tivoligänger der Was-immer-da-komme-Kategorie zu machen. Nicht selten gab es monatelange Phasen der Abwesenheit. „Besonders nach heftigen Enttäuschungen war die Luft raus. Zum Beispiel nach einem wieder einmal erst vorausgesagten und dann verdaddelten Aufstieg. So etwas hat mich dann zu sehr frustriert“, erinnert sich van Hasselt.
„Der Tivoli war für mich zu einer Selbstverständlichkeit meines Lebens geworden. Und diesen Fixpunkt wollte man mir jetzt wegnehmen. Das durfte nicht sein.“
Lutz van Hasselt über die Stadionpläne im Jahr 1998
Fast 14 Jahre währte diese On-and-off-Affäre. Dann hatte Wilfried Sawalies ein Visiönchen. Gemeinsam mit seinen Funktionärskollegen war der Alemannia-Präsident 1998 der Idee verfallen, den altehrwürdigen Tivoli durch einen Mehrzweckneubau ersetzen zu wollen. Ohne Stehplätze. Dafür aber mit Laufbahn. Lutz van Hasselt fing Feuer. Im späten Alter von 24 mutierte er vom zweifelnden Anhänger zum verzweifelten Hardcore-Fan. „Trotz allem war für mich der Tivoli zu einer Selbstverständlichkeit meines Lebens geworden. Und diesen Fixpunkt wollte man mir jetzt wegnehmen. Das durfte nicht sein.“ Mit großem Interesse verfolgte er die Aktivitäten der Initiative „Hände weg vom Tivoli“. Von da an war er bereit für eine Dauerbeziehung mit der Alemannia. Versprochen. Gehalten. Seit etwa 20 Jahren hat Lutz van Hasselt kein Auswärtsspiel und nur ein Heimspiel verpasst. Und letzteres nur wegen eines durchwachsen begabten Mimen namens Wolfgang Wolf.
Die Konvertierung war derart nachhaltig, dass er sogar einem Fanclub beitrat. Dem kurz zuvor gegründeten „Oche Hoppaz“. Im klassischen Sinne war man jedoch nur ein Jahr lang wirklich aktiv. Dann entstand die Idee, daraus ein digitales Alemannia-Archiv entstehen zu lassen. Das Vorhaben gelang. Unterdes ist „Oche Hoppaz“ zur wohl umfassendsten privaten Datensammlung rund um die Schwarz-Gelben gewachsen. Mit Ergebnissen, Aufstellungen und Hintergründigem. Zurückreichend bis 1900, dem Gründungsjahr des Vereins. Eine Sammlung, die sicherlich ein gewichtiges Argument war, sich 2008 für Lutz van Hasselt zum offiziellen Archivar des TSV Alemannia Aachen zu entscheiden.
Die DFL als Retter
Lutz van Hasselts Liaison mit der kaiserstädtischen Fußballdiva sollte indes noch ein gutes Stück angestrengter werden. Und anstrengender. Kaum hatte der neue Archivar in der Geschäftsstelle seinen Nebenjob angetreten, musste sein eigentlicher Arbeitgeber den Geschäftsbetrieb einstellen. Das rasend schnell populärer werdende Streaming hatte den Vertrieb von Tonträgern immer weniger lukrativ werden lassen. Target gab auf. Und van Hasselt war arbeitslos. Mit einem früh abgebrochenen Informatikstudium und ohne abgeschlossene Berufsausbildung im Rucksack. Nach zwei Jahren rettete ihn die Deutsche Fußball Liga aus der Misere.
In Frankfurt war man 2010 auf den Gedanken gekommen, dass Fanbeauftragte bei Proficlubs nicht mehr nur ehrenamtlich tätig sein durften. Fortan sollten sie ordnungsgemäß angestellt sein. Für Robert Jacobs, der den Posten am Tivoli bis dato in seiner Freizeit bekleidet hatte, war das keine Option. Van Hasselt bewarb sich. Seine Voraussetzungen konnten besser nicht sein. Auf der Geschäftsstelle kannte und schätzte man ihn. In der notorisch problematischen Aachener Anhängerschaft war er bestens verdrahtet. Er galt als besonnener, abwägender und belastbarer Typ. Folgerichtig berief ihn die Alemannia zu ihrem ersten hauptamtlichen Fanbeauftragten. Man stattete ihn mit einem 20-Stunden-Arbeitsvertrag bei weniger üppigem Lohn aus. „Für mich reichte es zum Leben“, merkt van Hasselt lapidar wie so oft an.
Reichlich Arbeit, hinreichend Ärger und überschaubare Vergütung. Einige Jahre schlug sich der Richtericher so durch. Bis die Spielbetriebsgesellschaft der Alemannia im November 2012 zum ersten Mal kopfüber in die Insolvenz stürzte. Das Geld wurde noch knapper, als es zuvor ohnehin schon gewesen war. Genosse Rotstift übernahm das Kommando. Der machte auch vor der Geschäftsstelle nicht halt. Der Personalstamm wurde abgeholzt. Die Aufgaben blieben. Was macht man in solchen Situationen? Man packt den wenig verbleibenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch zusätzlich etwas auf den Schreibtisch. Bei Lutz van Hasselt war es als Erstes das Ticketing. Dieser unschuldige Begriff verharmlost ein ziemlich weites Betätigungsfeld.
„Einer muss den Job ja machen. Und mir machts Spaß.“
Lutz van Hasselt über seine vielfältigen Ämter
Es reicht über den eigentlichen Kartenverkauf hinaus von Kalkulationen und Abrechnungen über die Betreuung des Kassenpersonals sowie der Vorverkaufsstellen bis zur Pflege der Ticketsoftware und der Bearbeitung von Anfragen jeglicher Art. Doch mit den Jahren fortwährender wirtschaftlicher Dürftigkeit wurde die Arbeit noch reichlicher, der Ärger noch hinreichender und die Vergütung zwangsläufig nur verhalten überschaubarer. Die Spielfelder wurden für den Hardcore-Alemannen zunehmend breiter. So verantwortete er unter anderem schon die Vereinshomepage und den Live-Ticker. Von all dem Tüddelkram, der in einer Kleingeschäftsstelle eben überall so anfällt, einmal ganz abgesehen. Aus dem einstigen Nebenerwerb ist längst so etwas wie ein Rund-um-die-Uhr-Beruf geworden. „Stört mich nicht. Einer muss den Job ja machen. Und mir machts Spaß.“ Da ist sie wieder, diese lapidare Gemütsruhe.
Veränderte Sichtweisen
Inzwischen ist van Hasselt 47 Jahre alt und hat seinen Herzensclub nach zwei Jahren archivarischem Hilfsdienst nun schon weitere elf Jahre als Beruf erlebt. „Es gibt kaum eine Stunde am Tag, in der ich wirklich von der Alemannia abschalten kann“, erklärt er. Selbst, nachdem er seine Bürotür abends oder nachts hinter sich abgeschlossen hat, bleibt Schwarz-Gelb meistens das beherrschende Thema. Nicht nur in Fankreisen ist er bekannter als so mancher Akteur der ersten Mannschaft. Folglich wird er ständig angesprochen, wird um kleine und große Gefälligkeiten gebeten. Keine einfache Sache für einen offenkundig umgänglichen und hilfsbereiten Typen wie ihn.
„Ich bringe mittlerweile für Sachen Verständnis auf, für die ich früher kaum eine Antenne hatte.“
Lutz van Hasselt über Folgen der Arbeit im Verein
Doch er weiß, dass „man nicht jedes Sitzplatzticket entsprechend ganz individuellen Wünschen ausgeben kann. Oder ständig den Plan ändern kann, nur weil A auf keinen Fall in der Nähe von B sitzen will. Man muss auch mal abblocken. Sonst bist du verloren.“ Zudem hat sich im Laufe der Zeit sein Blick auf die Dinge verändert. Van Hasselt beurteilt heute vieles „distanzierter und differenzierter“, wie er zugibt. Mehr durch eine professionelle Brille. „Ich bringe mittlerweile für Sachen Verständnis auf, für die ich früher kaum eine Antenne hatte. Zum Beispiel für die Arbeit und die Nöte der Polizei. Ebenso verstehe ich Vereinsfunktionäre und deren Handeln öfters besser.“ Und schon lange überlegt er beim Einsatz von Pyrotechnik nicht mehr, ob das Spektakel schön ist. „Heute denke ich sofort daran, dass uns so etwas Geld kostet.“
Fünf Partien an vier Tagen
Nicht nur seine Sichtweisen haben sich gewandelt. Zugleich sind Sachen auf der Strecke geblieben. Das Groundhopping zum Beispiel. Als junger Mann besuchte er pro Saison bis zu 200 Spiele. Neben denen der Alemannia wohlgemerkt. „Aber ich habe das nicht bierernst und organisiert betrieben. So was ist nicht meine Sache. Länderpunkte habe ich nie gesammelt“, schränkt van Hasselt ein. Zuletzt fand er Weihnachten 2019 Zeit für eine Tour. Da pilgerte er mit Gleichgesinnten auf die britische Insel.
Zu fünf Partien an vier Tagen: bei Luton Town, FC Reading, Sheffield Wednesday, Newcastle United und Dundee United. Auch die Dauerkarte bei Roda JC Kerkrade fiel der Arbeitsbelastung zum Opfer. Gleichermaßen rückte die Musik etwas in den Hintergrund. Der Punk- und Indieliebhaber besitzt mehr als 1.000 Vinyl-Scheiben und CDs. Auf Konzerte angesprochen, antwortet er trocken: „Mehr als drei bis vier im Jahr sind zeitlich nicht mehr drin. Okay, dank Corona musste ich mir darüber eh lange Zeit keine Gedanken mehr machen.“
Die Alemannia als Fulltime-Job. Einer, der einem kaum Raum für vielleicht lustigere Dinge lässt. Kann man da überhaupt noch echter Fan bleiben? Verliert man nicht irgendwann den geschönten Enthusiasmus und die Motivation? Van Hasselt will solche Zweifel nicht aufkommen lassen. Er ist ein Überzeugungstäter in Schwarz-Gelb. „Klar bin ich Fan. In erster Linie sogar. Ich leide mit der Alemannia keinen Deut weniger als früher.“ Obwohl Heimspieltage für ihn Arbeitstage sind und er ohnehin im Stadion ist, verlängert er seine S4-Dauerkarte Jahr für Jahr. Niederlagen zerren an ihm genauso erbarmungslos, wie sie es vor zwanzig Jahren getan haben.
„Besonders die gegen Rot-Weiss Essen, Wuppertal oder die Zweitvertretungen der Bundesligisten.“ Und über so manche Merkwürdigkeiten kann er sich herrlich inbrünstig aufregen. „Für dauerhysterische Stadionsprecher, wie beispielsweise den in Mainz, habe ich so gar kein Verständnis.“ Auch beim eigenen Verein reagiert er auf Wunderliches mit der für ihn typischen beißenden Ironie. „Wenigstens an den Clearingstellen im Stadion kann man merken, dass wir eigentlich ein Weltverein sind.“