Es ist Spätsommer 2021. Marc Frings und ein paar seiner Freunde sind frustriert. Die Covid-19-Pandemie hat auch im Jugendfußball für einige Wirrungen gesorgt. Jahrelang hatten sie gemeinsam beim FC Eintracht Kornelimünster gekickt. Jetzt sind sie in alle Ecken des Fußballkreises Aachen verstreut. Doch Frings ist fest entschlossen, das Rad zurückzudrehen. Er will wieder zusammen mit den Jungs um Punkte und Tore spielen. Im besten Fall sind auch noch andere aus dem Freundes- und Bekanntenkreis dabei. Eine große Clique als Mannschaft.
Man lässt die mutmaßliche Luftschlossidee in der gemeinschaftlichen Whatsapp-Gruppe kreisen. Und siehe da: Die Resonanz ist famos. Innerhalb von nur zwei Wochen steht eine Truppe aus rund 20 Jugendspielern Ball bei Fuß. Heute, etwas mehr als ein Jahr später, spielt man tatsächlich vereint im Ligabetrieb der Kreisklasse D. Als Alemannia Aachen II. Mit einem inzwischen etwa 30 Mann umfassenden und durchschnittlich 21 Jahre jungen Kader. In dem kaum einer über Erfahrungen im Seniorenbereich verfügt.
Foto: Fabian Nelleßen
Dabei hatten Frings und seine Kumpane den Traditionsclub überhaupt nicht auf dem Zettel, als man sich im September des vergangenen Jahres auf die Suche nach einer gemeinsamen fußballerischen Heimat machte. Zur Alemannia ging man. Man begleitete sie auswärts. Man fieberte mit ihr mit. Aber in deren Trikot auflaufen? „Das lag völlig außerhalb unserer Vorstellungskraft“, versichert der 19-Jährige.
Vielmehr klapperten die jugendlichen Nachwuchskicker einen Verein nach dem anderen im Kreis ab. Doch wo sie auch anklopften: Nirgends passte es. Hier wollte man erst gar keine zusätzliche Mannschaft unterhalten müssen. Dort hatte man Angst, sich mit der Aufnahme der geschlossenen Gruppe einen Verein im Verein zu schaffen. Andernorts pochte man auf das Prinzip, bei Bedarf und Eignung einzelne Spieler in höher spielende Teams abberufen zu können. Etwas, das für die Jungs nicht infrage kam. Schließlich hatte man sich ja zusammengetan, um gemeinsam kicken zu können. Das Projekt drohte zu scheitern, bevor überhaupt der erste Anpfiff ertönt war.
Papas ante portas
In dieser Situation schalteten sich Frings‘ Vater und Stiefvater ein, indem sie die Alemannia ins Spiel brachten. Beide sind innerhalb Aachens Fußballszene keine Unbekannten. Thomas Frings ist mit seiner Steuerberatungsgesellschaft Sponsor der Alemannia. 2021 kandidierte er im sogenannten „Team Gronen“ für das Amt eines Beisitzers im Vorstand der Schwarz-Gelben.
Harald von Ameln war lange Jahre Vereinsvorsitzender und Finanzier von Ex-Oberligist Hertha Walheim. Bis deren Fußballabteilung nach heftigen internen Querelen im vergangenen Jahr den Betrieb einstellen musste. Von Ameln gilt zudem als Mentor von Alemannias Sportdirektor und Coach Helge Hohl, der bei der Hertha nacheinander die U17, die U19 sowie die erste Herrenmannschaft anleiten durfte. Überdies pflegt der gebürtige Bayer einen kurzen Draht zu GmbH-Chef Sascha Eller. „Wir wussten, dass die Alemannia über eine zweite Mannschaft nachdachte, ohne aufgrund knapper finanzieller Ressourcen große sportliche Ambitionen hegen zu können. Warum also einfach nicht mal nachfragen“, erinnert sich von Ameln.
Foto: Carl Brunn
Bei seinem Stiefsohn und dessen Mitstreitern stieß er auf ebenso begeistertes wie ungläubiges Staunen. Der ansonst durchaus selbstbewusst auftretende Marc Frings wirkt auch heute noch beinahe kleinlaut, wenn er an den März 2022 zurückdenkt. Als man mit Sascha Eller und Helge Hohl zusammenkam, um erstmals über die Idee zu sprechen. „Da waren wir irgendwie überwältigt. Das fühlte sich ziemlich surreal an. Alle von uns angesprochenen kleineren Vereine waren uns skeptisch bis abweisend begegnet. Ausgerechnet die große Alemannia war von Anfang an mehr als aufgeschlossen.“
Selbst als Frings Jr. gestehen musste, dass bestimmt nicht alle aus der Truppe mit einem begnadeten Talent gesegnet seien, wären seine beiden Gesprächspartner kein Deut weniger zugänglich gewesen. „Selbstverständlich freuen wir uns, wenn die Mannschaft erfolgreich spielt. Aber für uns ist der Leistungsgedanke zweitrangig. Wir haben immer betont, den Kontakt zur Basis intensivieren zu müssen. Eine zweite Mannschaft, die ganz unten im Ligasystem einsteigt, ist da genau der richtige Ansatz“, erläutert Sascha Eller.
Da sein
Beim eingetragenen Verein, in dessen Zuständigkeit die Zweite fällt, sah man das von Beginn an genauso, bestätigt Vizepräsident Andreas Görtges: „Wir wollen in der Region wieder deutlich präsenter werden. Vor diesem Hintergrund hielten wir die Gründung einer zweiten Mannschaft für eine hervorragende Idee. Auch im Hinblick auf unser soziales Engagement.“
Für Harald von Ameln kann eine bessere Einbindung der Alemannia in das gesellschaftliche Leben der Region nur gelingen, „wenn wir über den Tellerrand des Fußballs hinaus blicken. Hierzu können und wollen die Jungs einen Beitrag leisten.“ So seien kurzfristig zum Beispiel Aktionen für die Aachener Engel und ein Weihnachtsbaumverkauf für einen weiteren karitativen Zweck geplant. Schon jetzt gehen pro geschossenem Tor der Zweiten 100 Euro an das Café Plattform der Caritas.
Foto: Carl Brunn
Zunächst einmal musste die Mannschaft jedoch in die Struktur des e.V. eingefügt werden. Frauenfußball, Jugend, Tischtennis, Volleyball, E‑Sports: Keine dieser Sparten war tauglich. Also beschloss man die Gründung einer neuen Abteilung „Seniorenfußball“ mit eigener Organisation, Satzung und Mitgliederverwaltung. Deren frisch gewählter Vorsitzender ist seit wenigen Wochen Marc Frings, der zudem als Kapitän des Teams fungiert.
Ein Glücksfall ist die Alemannia jedoch auch für die Jungs. Denn hier dürfen sie ohne Einschränkungen als Einheit zusammenspielen. Die Gefahr, auseinandergerissen zu werden, besteht nicht. „Die Durchlässigkeit zur ersten Mannschaft war von Vornherein ausgeschlossen. Von uns hat keiner die Fähigkeiten oder den falschen Ehrgeiz, in der Ersten zu spielen. Ebenso abwegig ist die Versetzung eines Regionalligaspielers zu uns. Wir sind also kein klassischer Unterbau“, erklärt Marc Frings.
Hinzu kommt eine für Kreisligaverhältnisse erhebliche organisatorische wie logistische Unterstützung durch den Verein. Mit Timepartner gewann man den ehemaligen Hauptsponsor der Viertligamannschaft als Förderer. Darüber hinaus stellte man ein zweiköpfiges Trainerteam: Corneille Sukami hatte bis dahin die U14 der Kartoffelkäfer betreut. Dominik Frank war zuvor verantwortlich für die U19 des SC Berger Preuß und arbeitet in der Marketingabteilung der TSV Alemannia Aachen GmbH. Verwaltungsleiter Christoph Theisen verantwortet die Dinge auf offizieller Vereinsseite. Und Harald van Ameln wiederum kümmert sich um alles Organisatorische.
Foto: Carl Brunn
Dress for success
Doch nicht nur die Strukturen sind gemessen an der Spielklasse besonders. Das Auftreten der Mannschaft entspricht ebenso wenig der gängigen Zehntligawurstigkeit. Die Aktiven verfügen über eine umfangreiche Kollektion aus zwei Trikotsätzen, zwei kompletten Trainingsgarnituren, einer Aufwärmkluft und sogar Polohemden für den einheitlichen Auftritt neben dem Platz. Und dann ist da noch der Zuspruch von außen.
Da, wo normalerweise im besten Fall Papa, Mama oder die Lebensabschnittsgefährtin hinter der Absperrung lungert, würden sich bei Spielen der Soerser stets etwas mehr Leute einfinden. Sogar Mitglieder der aktiven Fanszene hätten schon vorbeigeschaut. „Jeder von uns hat ja bereits vorher Fußball gespielt. Und das bestimmt nicht in schlechten Vereinen. Aber das Drumherum bei der Alemannia ist schon einige Nummern größer“, wirkt Angreifer Bennet Frey auch nach Monaten noch perplex.
Wird man nicht argwöhnisch bis schiefmäulig empfangen, wenn man derart aufgemotzt beim SV St. Jöris II oder FC Columbia Donnerberg III auftaucht? Unter dem Motto: ‚Die meinen, sie seien die Kreisklassen-Aristokratie. Denen zeigen wir es mal so richtig.‘ Vize-Kapitän Chris Mevißen sieht das entspannt: „Insgesamt halten sich die Provokationen in Grenzen. Eher legt man gegen uns auf dem Platz einen besonderen Eifer an den Tag. Den Willen, unbedingt die Alemannia schlagen zu wollen, spüren wir eigentlich jedes Mal. Gegen uns setzt man dann eben auch sehr gerne Spieler aus den jeweils höherklassigen Kadern ein.“
„Klar, wir sind im Grunde genommen ein Haufen zehntklassiger Freizeitkicker. Aber wir repräsentieren halt auch Alemannia Aachen.“
Vize-Kapitän Chris Mevißen
Überdies würde es öfters härter zur Sache gehen als vielleicht sonst. Wer mit den jungen Spielern spricht, spürt den enormen Stolz. Den zu verhehlen, versucht Mevißen erst gar nicht. „Wir finden das geil. Eigentlich ist das ja eine Art von Wertschätzung. Außerdem ist es schon ziemlich cool, mit dem Adler auf der Brust aufzulaufen.“ Der Nimbus der Alemannia als Primus im Aachener Fußballuniversum bringe freilich auch eine gewisse Verantwortung mit sich. „Klar, wir sind im Grunde genommen ein Haufen zehntklassiger Freizeitkicker. Aber wir repräsentieren halt auch Alemannia Aachen“, so der zweite Spielführer.
Folglich hat sich die Mannschaft ohne vorm Verein dazu angehalten worden zu sein, einen eigenen Verhaltenskodex auferlegt. Einheitliches Outfit bei der Anfahrt und beim Aufwärmen. Nicht der klassenübliche Bierkasten am Spielfeldrand. Kein Rauchen in der Öffentlichkeit. Respekt und Anstand gegenüber Schiedsrichtern wie Kontrahenten. Kabinen werden sauber hinterlassen. Das sind nur einige der Vorgaben aus dem Katalog.
Gekommen, um zu gehen
Freizeitkicker hin, Freizeitkicker her: Der Anspruch, dem Namen Alemannia Aachen gerecht zu werden, bezieht sich auch auf die sportliche Leistung. In der Truppe steckt reichlich Ehrgeiz. Geht es nach Marc Frings, steigt man gleich in der Premierensaison in die Kreisliga C auf, um dann in die B‑Klasse durchzumarschieren. „Wir wollen sicherlich Spaß in der Gemeinschaft haben. Aber wir sehen uns definitiv nicht als Thekenmannschaft, die nur ein wenig gegen den Ball treten will und Woche für Woche abgeschossen wird“, bestätigt Marc Frings.
Fotos: Carl Brunn
Diese Ambitionen mögen hochtönend klingen. Ihr Ziel verfolgen die Kreisliga-D-Kicker jedenfalls mit einer gehörigen Portion Ernsthaftigkeit. Zweimal wöchentlich trifft sich der Kader zum Training. Mittwochs stehen eher Kondition und Ausdauer auf dem Plan, Freitags dann das Spielerische und Technische. Offiziell sind die Einheiten auf 90 Minuten angesetzt. Doch in der Regel bleiben die Jungs länger. Dann geht man auch schon mal erst nach zweieinhalb Stunden auseinander.
Und Frings‘ schmissige Ansage scheint Substanz zu haben. Am Ende werden zumindest der Tabellenerste sowie der Zweitplatzierte der 15er-Staffel in die C‑Klasse versetzt. Und mit sechs Siegen bei nur einer Niederlage finden sich die Kartoffelkäferchen aktuell auf Position fünf wieder. Bei zwar sechs Punkten Rückstand auf den ersten Aufstiegsrang. Doch mit zwei Nachholspielen in der Hinterhand.
Ein 30-Mann-Kader, der geschlossen mitzieht. Da könnte das wöchentliche Teampuzzle kompliziert werden. Schließlich will man keinen der Jungs enttäuschen oder verprellen. Coach Corneille Sukami stellt das vor keine Probleme. Selbstverständlich sei die Beteiligung am Training ein Kriterium. „Aber ich garantiere Jedem seine Einsatzzeiten im Laufe der Saison. Deshalb wird bei uns Woche für Woche kräftig rotiert.“
Bennet Frey bekräftigt das: „Ich selbst bin alles andere als ein Hochbegabter am Ball. Doch ich gehöre ebenso dazu wie unsere Besten. Da wird kein Unterschied gemacht. Letztendlich ist es eh nicht entscheidend, ob ich am Wochenende spiele oder nicht. Allein das Training mit den Jungs ist purer Spaß. Und der Zusammenhalt ist herausragend. Das sehen alle in der Truppe so.“
Foto: Fabian Nelleßen
„Jeder Neue soll in erster Linie menschlich zu uns passen. Schließlich ist das hier ein Freizeitspaß.“
Kapitän Marc Frings
Aller Verbundenheit zum Trotz: Man ist sich darüber im Klaren, dass sich das Gesicht des Teams im Laufe der Zeit verändern wird. Allein aus beruflichen Gründen wird es Abgänge geben. Und sollte die Mannschaft tatsächlich die Kreisligapyramide erklimmen, werden zwangsläufig auch sportliche Aspekte zu einem Faktor werden. Gleichwohl will man die Geschlossenheit und die gute Atmosphäre in keinem Fall dem Erfolg opfern. „Jeder Neue soll in erster Linie menschlich zu uns passen. Wir wollen Freunde sein und nicht nur Mannschaftskameraden. Schließlich ist das hier ein Freizeitspaß“, betont Marc Frings. So viel Romantik muss dann aber doch möglich sein.