Erika Lützler ist 84. Die Hälfte ihrer Lebenszeit wohnt sie nun schon on der Merowingerstraße. „Wir waren seinerzeit das dritte Haus hier. Die Straße war ein besserer Feldweg. Und der Tivoli hatte noch ein ganz anderes Gesicht.“
Wir sitzen in ihrer Küche. Aus dem Fenster fällt der Blick auf die Flutlichtmasten. Die rüstige Seniorin holt weiter aus: „Abgesehen von meiner Tochter interessiert sich sonst niemand in unserer Familie für Fußball oder die Alemannia. Das Stadion war also nicht der Grund, hierher zu ziehen.“ Es hat die Familie aber auch nicht davon abgehalten.
Andererseits hat die unmittelbare Nähe doch ihre Konsequenzen gehabt. Ihre Tochter ist im Lauf der Jahre zum Fan geworden. „Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, da war das Trainingsgelände am Hintereingang frei zugänglich.“ So konnte es auch schon einmal vorkommen, dass die Tochter dort den Schulsport absolvierte, während die Spieler zwischen den Schülern trainierten. „Vielleicht liegt es ja daran. Heute vergeht wirklich kaum ein Spiel, bei dem sie nicht auf der Tribüne sitzt“, lacht Erika Lützler1.
Ungebremste Schlachtgesänge
Die Simons hatten solche Anreize nicht nötig. Die beiden sind seit jeher Alemanniafans. Da ist der Wohnort nur das Salz in der Suppe. Aus dem Esszimmer heraus blickt man auf die Gegengerade. „Am besten sieht man im Herbst, wenn die Bäume keine Blätter tragen“, berichtet Yvonne Simons. Seit der Geburt ihrer Tochter vor etwas mehr als sechs Monaten geht sie selber nicht mehr ins Stadion. Seitdem ist ihr Mann auf der Tribüne, während sie sich das Spielgeschehen anhört.
Die Schlachtgesänge fliegen ungebremst in ihre Wohnung. „Bei Aachener Toren kann man manchmal sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Ich weiß fast immer das Spielergebnis, bevor mein Mann vom Tivoli kommt.“ Auch Erika Lützler bekommt den Spielverlauf frei Haus geliefert. „Wenn ich es drauf anlegen würde, könnte ich am Geräuschpegel das Ergebnis erkennen.“ Sie legt es aber nicht drauf an. Gleichzeitig stört sie die Kulisse aber auch nicht.
„Das Flutlicht glüht so langsam aus, dass man nachts auf dem Weg zum Klo kein Licht anmachen muss.“
Alemannia-Nachbarin Yvonne Simons
Die Abendspiele sind bei den Damen des Hauses Simons ganz besonders beliebt. Für Yvonne Simons wegen der intensiveren Atmosphäre. Für die kleine Saskia wegen des Genusses, länger wach bleiben zu dürfen. „Bei Flutlichtkicks ist es so hell im Kinderzimmer, dass an Schlafen nicht zu denken ist.“ Von der Helligkeit hat die Familie auch lange nach dem Schlusspfiff noch etwas. „Das Flutlicht glüht langsam aus. Sogar so langsam, dass man nachts auf dem Weg zum Klo kein Licht anmachen muss“, versichert die junge Mutter.
Anzüge, Jeanswesten und Trikots
Der Tivoli ein heißes Pflaster? Da braucht Erika Lützler heute keiner mehr mit zu kommen. „Also, das Publikum war in den 60er Jahren mindestens genauso fanatisch und laut wie heute. Am Spieltag war hier auch damals der Teufel los. Da muss sich heute keiner etwas einbilden.“ Seit jenen Tagen sind etliche Fangenerationen an ihrem Fenster vorbeigezogen. Überhaupt beobachtet sie die vielen ankommenden Zuschauer gerne.

„Früher kamen die Leute im Sonntagsanzug mit kleinen schwarz-gelben Fähnchen in der Hand. In dem Aufzug sind sie dann über die Zäune der Bauernhöfe geklettert, um den Weg abzukürzen“, erzählt Frau Lützler und zeigt in die entsprechende Richtung. Nach den Sonntagsanzügen kamen die „benähten Jeanswesten“, später dann, in den 80ern, so peu à peu die Trikotträger. Doch nicht nur das Outfit der Fans hat sich geändert. Beklagenswert ist die zu beobachtende moderne Einstellung zur Umwelt: „Ich finde es traurig, dass heutzutage so viel Müll einfach auf die Straße geworfen wird. Oder in unsere Vorgärten. Dabei hängen hier mehr Mülleimer als früher.“
Parken am Spieltag: Mission Impossible
Das Leben in der Merowingerstraße bringt gerade am Spieltag die eine oder andere Unannehmlichkeit mit sich. Da ist vor allem die Verkehrssituation. Die Sperrung der alltags eher ruhigen Wohnstraße kennt keine Ausnahme. Meist werden die Halteverbotsschilder schon mittwochs aufgestellt. „Wahrscheinlich, damit auch die Anwohner rechtzeitig Bescheid wissen, die den Spielplan nicht im Kopf haben“, vermutet Frank Simons. Am „Tag X“ selbst ist dann Hopfen und Malz verloren. Das Parken wird dann auch für Bewohner zur Mission Impossible. „Theoretisch ist es möglich, den Wagen am Bordstein direkt vor der Haustür abzustellen. Aber wie schnell hat man da eine Katsche im Lack? Das ist zu riskant.“ Und auf der Suche nach Alternativen erlebt man so manche Überraschung.
Der Familienvater schimpft: „Hier um die Ecke ist ein kleiner Parkplatz. Da steht seit neuestem so ein Kerl und will eiskalt drei Euro fürs Parken haben. Aber ohne mich!“ Die Verkehrskadetten sind da offenbar keine große Hilfe. Im Gegenteil. „Hier wohnen viele alte Leute. Die sind teilweise gehbehindert. Denen bringt der Tipp, besser weit weg zu parken und den Rest zu Fuß zu gehen, nicht wirklich was.“ Über so viel Ignoranz schüttelt nicht nur Erika Lützler verständnislos den Kopf.
Zumal, wenn sich die Polizei das eine oder andere Mal von einer eher wenig flexiblen Seite zeigt. „Ich wollte mit dem Kinderwagen in die Merowingerstraße und wurde von einem Beamten gestoppt. Der wollte mir tatsächlich nicht glauben, dass ich hier wohne. Und das nur, weil ich einen Alemanniaschal trug“, ereifert sich Frank Simons. Erst nach einer umständlichen Ausweiskontrolle durfte er passieren. „So ein Quatsch! Als wäre ich mit meiner kleinen Tochter auf dem Weg zu einer Klopperei.“
Reizthema Umbaupläne
Da ging es zu Regionalligazeiten doch deutlich gemütlicher zu. Vom „Früher war alles besser“ will Erika Lützler allerdings nichts wissen. Ihrer Meinung nach hat sich die Organisation insgesamt deutlich verbessert. So zum Beispiel der Abtransport der Auswärtsfans. Gut kann sie sich noch an turbulente Jagdszenen in den 80er und frühen 90er Jahren erinnern. „Die ganze Fanmeute lief die Merowingerstraße runter. Polizisten auf Pferden hinterher. In manchem Vorgarten gab es Schlägereien.“ Doch das gehöre jetzt der Vergangenheit an. Seit Jahren habe es hier keine Ausschreitungen mehr gegeben.

Auch Familie Simons kann von unangenehmen Vorkommnissen mit Gästefans kaum etwas berichten. Ganz im Gegenteil: Immer wieder kommt es zu netten Gesprächen am Fenster. Nur einmal haben die jungen Eltern erlebt, wie die Stimmung umkippte. „Das war gegen Bochum im Frühjahr 2002. Da war plötzlich Hektik bei der Polizei. Die haben rumgeschrien und sind wild durcheinander gerannt“, hat Yvonne Simons die Szenerie noch vor Augen. „Normalerweise sitzen die in ihren Transporten und spielen Karten.“
Nicht ganz so milde stimmt das Thema Tivoli-Umbau. Zu gut ist noch die böse Erinnerung an so manche Planspiele aus der jüngeren Vergangenheit. „Ich kenne niemanden hier, der mit dem Umbau glücklich gewesen wäre“, sagt Erika Lützler. Gründe kann sie einige nennen. Von zusätzlicher Lärmbelästigung durch eine Komplettüberdachung ist da die Rede. Der Gedanke an mehr Schatten im Garten erscheint ihr ebenfalls als wenig verlockend. Den massiven Protest vieler Anwohner kann sie sehr gut nachvollziehen.
Zwar will sie das sich hartnäckig haltende Gerücht, ein ehemaliger Alemannia-Präsident habe in der Straße wegen des Widerstands diverse Stadionverbote ausgesprochen, nicht bestätigen. Doch sehr wohl erinnert sie sich an eine Informationsveranstaltung, bei der die Anwohner frühzeitig über die Umbaupläne in Kenntnis gesetzt werden sollten. „Das Ganze war eigentlich ein Witz. Zu Wort gekommen sind wir da nicht. Aber hinterher konnten die Herren wenigstens behaupten, sie hätten uns Bescheid gesagt.“
„ … abseits vom Lärm, mitten im Trubel … “
Wegziehen aus der Merowingerstraße? Für die Nachbarn der guten alten Tante Alemannia ist das kein Thema. Am Ende überwiegen eben doch die Vorzüge. „Das Gute ist besser als erwartet, das Schlechte nicht so schlimm wie befürchtet“, resümiert Frank Simons. Für seine Frau und ihn gibt es keine bessere Gegend. „Man lebt hier etwas abseits vom Lärm der Stadt. Dafür ist man am Wochenende mitten im Trubel. Eine schöne Mischung.“ Und für den einen oder anderen Nörgler in der Umgebung haben die beiden einen guten Rat: „Alle vierzehn Tage ein paar Stündchen Unruhe? Da kann man doch prima Verwandtenbesuche machen. Danach ist alles wieder beim Alten.“ Für die Simons selbst ist das allerdings keine Alternative.
„In einer guten Nachbarschaft muss man auch mal ein Auge zudrücken können.“
Erika Lützler, Urgestein der Merowingerstraße
Auch Erika Lützler denkt so. „Wir wussten damals ganz genau, wo wir gebaut haben. Jeder, der hier hinzieht, hat sich die Nachbarschaft doch selbst ausgesucht. Und in einer guten Nachbarschaft muss man halt auch mal ein Auge zudrücken können. Da muss ich gönnen können, wenn die hier mal etwas laut feiern.“ Für die alte Dame, die mit Fußball eigentlich nicht viel am Hut hat, war es ein besonderes Erlebnis, „anzusehen, wie die jubelnden Massen nach dem Aufstieg 1999 hier die Straße runtergezogen sind“. Nein, niemals würde sie ihrer Merowingerstraße den Rücken kehren. Schon gar nicht wegen ihres prominenten Nachbarn.
Da bleibt eigentlich nur noch eine Frage offen: „Wo genau liegt denn der Hintereingang?“ Für Erika Lützler kommt das überraschend. „Hintereingang? Das sind doch die Kassenhäuschen am Würselener Wall. Den nennen hier in der Straße alle so.“ Eigentlich ganz logisch. Es ist halt alles eine Frage der Perspektive.
1Erika Lützler heißt eigentlich gar nicht Erika Lützler. Wir haben nur ihrem Wunsch entsprochen, im Artikel nicht namentlich genannt zu werden. (zurück)
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