Hun­dert Meter Anarchie

Wir haben noch einmal nachgesehen, wo und wie es loderte: das Feuer unter dem guten, alten Tivoli-Hexenkessel.
Foto: Carl Brunn

10 Minuten Lesezeit

Die­se – zwangs­läu­fig völ­lig unvoll­stän­di­ge – Geschich­te han­delt vom S‑Block. Der Signa­tur einer über die Gren­zen Aachens hin­aus häu­fig mythisch ver­klär­ten Atmo­sphä­re am ori­gi­na­len und ein­zig ech­ten Aache­ner Tivoli.

Sonn­tag, 25. April 1999, 16:55 Uhr. Der Käfig war längst über­hitzt. Ein gewis­ser Frank Schmidt hat­te die spä­te Füh­rung der eigent­lich Aus­sichts­lo­sen aus Verl doch noch ega­li­siert. Vier Minu­ten vor Abpfiff. Damit hielt Aachen Auf­stiegs­kurs. Die Schwarz-Gel­ben hat­ten sich für die­sen Moment gegen das Alemannia-obli­ga­to­ri­sche Schei­tern auf der Ziel­ge­ra­den gestemmt. Doch da muss­te mehr gehen. Die ent­fes­sel­te Meu­te hin­ter dem Zaun woll­te es so. Sie gei­fer­te, spie Erre­gung. Die Mann­schaft ver­stand. In die­ser 89. Minu­te lie­fer­te sie zuver­läs­sig ab.

Ein­wech­sel­tor­jä­ger Mario Krohm mach­te das 2:1. Die Men­ge deto­nier­te und ließ einer brül­len­den Hys­te­rie frei­en Lauf. An die­ser rund hun­dert Meter lan­gen, tosend-tau­meln­den Wand sprin­te­te der Hüne Krohm mit hoch gestreck­tem Zei­ge­fin­ger ent­lang. Eine Ges­te, die sich längst ins kol­lek­ti­ve Alemannia-Gedächt­nis ein­ge­brannt hat. Dem S‑Block huldigend.

Foto: Carl Brunn

Die­ser konn­te so eini­ges. Spie­le dre­hen sowie­so. Per Sitz­streik eine Trai­ner­ent­las­sung erzwin­gen. Die min­der­ta­len­tier­ten Sie­ger einer Sing­sang-Cas­ting­show zur Höl­le schi­cken. Einen Gast­coach zur stark Bau­ern­thea­ter-ver­däch­ti­gen Schau­spiel­ein­la­ge ani­mie­ren. Er mach­te nicht Halt vor Alemannias eige­nem Mas­kott­chen und schon gar nicht vor beläs­ti­gen­den Cheer­lea­dern. Er zwang die Lalas, Pat­schin­kis und Ramo­vics die­ser Welt zu unkon­trol­lier­ten Handlungen.

Sein bös-ani­ma­li­sches Grol­len bei geg­ne­ri­schem Ball­be­sitz hör­te man so in kei­nem ande­ren Sta­di­on. Er konn­te feind­se­lig und mit­füh­lend sein. Er war rück­sichts­los und char­mant, pri­mi­tiv und wit­zig. Er äußer­te sich groß­mäu­lig wie selbst­iro­nisch, Er war somit Alemannia durch und durch.

Zu aller­erst ein­mal war der S‑Block jedoch ein Eti­ket­ten­schwin­del. Denn am Ende des Fes­tes mein­te man damit nicht allein den eigent­li­chen Tri­bü­nen­be­reich S genau in der Mit­te der Steh­platz­ge­ra­den. Viel­mehr wur­den unter die­sem Label die angren­zen­den Sek­tio­nen P und T qua­si annek­tiert. Erst der Volks­mund ver­schmolz alles zum legen­den­um­rank­ten S‑Block. Eine räum­li­che Tren­nung der Teil­be­rei­che gab es bis 1999 ohne­hin nicht. Außer­dem konn­te man ihn kaum als Fan­kur­ve bezeichnen.

Jeden­falls nicht als Fan­kur­ve klas­si­scher Defi­ni­ti­on, wie sie in den Sta­di­en zwi­schen Eutin und Rosen­heim gilt. So etwas gab es in Aachen höchs­tens frü­her ein­mal auf dem viel impo­san­te­ren Wür­se­l­e­n­er Wall. Die nörd­li­che Stirn­sei­te des Sta­di­on­vier­ecks war die tra­di­tio­nel­le Hei­mat der Fah­nen­schwen­ker und Kut­ten­trä­ger. An ihr hat­ten sich die Halb­star­ken und Hosen­mat­ze gesam­melt. Hier insze­nier­ten sich ab den spä­ten 70er Jah­ren auch die ers­ten Alemannia-Fan­clubs. „Löwen“. „Black Eagles“. Und spä­ter „Schwarz-Gelb ’81“. 

„Auf dem Wür­se­l­e­n­er Wall war immer mehr tote Hose.“
Foto: pri­vat

Kate­go­rie S

Die am Ende noch ins­ge­samt gut 5.000 Besu­cher fas­sen­de Gegen­ge­ra­de hin­ge­gen bil­de­te seit jeher einen Quer­schnitt der Aache­ner Bevöl­ke­rung ab. Und weil der Aache­ner als sol­cher eben­so herz­lich wie rau und eben­so gesel­lig wie streit­lus­tig sein kann, stör­te es auch kei­nen, dass an die­sem Ort mit Lust und Lau­ne gepö­belt, belei­dígt und gefuch­telt wur­de. Bis zum Schluss fan­den unter dem Dach Rabau­ken und Frie­dens­be­weg­te, Stu­den­ten und Arbei­ter, Fami­li­en­vä­ter und Dis­co­queens, Fau­len­zer und Stre­ber, Ein­steins und Doofs ihre schwarz-gel­be Hei­mat. Meis­tens sogar eini­ger­ma­ßen mit­ein­an­der auskommend.

Und das, obwohl man sich weni­ger ele­gant aus dem Weg gehen konn­te als auf dem kolos­sa­len Wall an der Tivo­li-Nord­sei­te. „Über drei Jahr­zehn­te war der S‑Block mei­ne Hei­mat als Alemannia-Fan. Hier traf ich mich mit mei­nen Brü­dern und Freun­den und mach­te lang­jäh­ri­ge Bekannt­schaf­ten, wenn man Schul­ter an Schul­ter dicht­ge­drängt stand. Die inten­si­ve Atmo­sphä­re schuf ein Fuß­ball­er­leb­nis, das es heu­te fast nir­gend­wo mehr gibt“, erin­nert sich Wil­helm Helg, Vor­sit­zen­der der FDP-Frak­ti­on im Aache­ner Stadt­rat und S‑Block-Vete­ran.

Bereits zum Ende der 80er Jah­re war die damals an und für sich über­sicht­li­che Aache­ner Hoo­li­gan­sze­ne vom Wür­se­l­e­n­er Wall auf die Gegen­ge­ra­de gezo­gen. „Auf dem WüWa war immer mehr tote Hose. Auf der Über­dach­ten war da schon damals mehr los“, erzählt einer der Pro­ta­gonisten. Skur­ril wur­de es wäh­rend der Elends­sai­son 1989/​1990, als die für das Osma­ni­sche nicht gera­de schwär­men­de Kli­en­tel just hier auf vie­le Hun­dert tür­ki­sche Mit­bür­ger traf.

Die hat­ten die Alemannia tem­po­rär zu ihrem Her­zens­club erko­ren, weil ihr Held Mus­ta­fa Deniz­li in Aachen flüch­tig als Trai­ner ange­heu­ert hat­te. Par­ty unter unzäh­li­gen Halb­mond­flag­gen. Hoo­li­gans und tür­ki­sche Gäs­te ver­eint für Schwarz-Gelb. Auch so eine Geschich­te der Über­dach­ten. Aller­dings beno­te­te die Aache­ner Rüpel-Frak­ti­on die Soli­da­ri­tät der neu­en Mit­strei­ter dann doch mit man­gel­haft. „Ja, wo sind denn die Tür­ken wenn wir ‘se auf die Fres­se krie­gen? Da hab ich noch kei­nen gese­hen“, beschwer­te sich einer der Rauf­brü­der vor lau­fen­den WDR-Kameras.

Nach dem in die­sem Jahr erfolg­ten Nie­der­gang ins Ama­teur­la­ger folg­ten acht Jah­re Dia­spo­ra. Man muss­te zusam­men­rü­cken. Und tat dies unter dem Dach. Zunächst waren das vor allem Unor­ga­ni­sier­te sowie Mit­glie­der der Grup­pie­run­gen „Inva­ders“ und „United 87“. Mit der Zeit rück­ten jedoch immer mehr nach. Und so grün­de­ten sich auf der Gegen­ge­ra­den neue Kränz­chen, wie zum Bei­spiel „Grenz­land Grin­gos“, „Eure­gio Kings“, „Nasty Boys“, „Öcher Jon­ge“ oder die „West-End Crew 91“. Der Urfan­club „Schwarz-Gelb ’81“ hin­ge­gen war für einen Tape­ten­wech­sel nicht zu haben und blieb sei­nem Stand­ort auf dem Wür­se­l­e­n­er Wall treu.

Mäch­tig Wel­len­gang auf der Über­dach­ten
Foto: Zei­tungs­ver­lag Aachen

Doch mit den spä­te­ren grö­ße­ren Erfol­gen der Alemannia ver­än­der­te sich die DNA des S‑Blocks. DFB-Pokal-Ral­lye, Euro­pa­tour und beson­ders der Bun­des­li­ga­auf­stieg 2006 stei­ger­ten die Lob­hu­de­lei der Medi­en ins Über­spann­te. Das mach­te die Tri­bü­ne als eine Art Event­de­sti­na­ti­on attrak­tiv. Man muss­te mit­ten­drin, Teil die­ses Hypes sein. „Ich war am Frei­tag im S‑Block“ wur­de ein fürs Anse­hen end­pu­per­tier­ter Jugend­li­cher ent­schei­den­der Satz. Bald­wel­ke Bal­ler­mann-Prin­zes­sin­nen kaper­ten die geweih­ten Ter­ras­sen als veri­ta­blen Festzeltersatz.

Unters ange­stamm­te S‑Block-Volk misch­te sich ein Publi­kum mit der Atti­tü­de: „Nun enter­taint mich mal schön. Ich will was erle­ben.“ Das Gesche­hen auf dem Rasen wur­de zuneh­mend zur Neben­sa­che. Die Kern­ge­ne Lei­den­schaft­lich­keit, Gespür und Spon­ta­ni­tät schwäch­ten sich ab. Der Käfig und damit auch der Tivo­li büß­ten einen gro­ßen Teil ihres indi­vi­du­el­len Cha­rak­ters ein.

S‑Block-Tage

Dabei konn­te die Gera­de an guten Tagen Spie­le mas­siv beein­flus­sen. Bereits wäh­rend der kur­zen Pha­se Ahmann­schen Rock’n’Roll-Fußballs im Spät­som­mer 1980 mutier­te sie zum Hoch­druck­be­häl­ter. Unter dem neu­en Gebälk ent­wi­ckel­te sich eine bis dahin kaum erleb­te Laut­stär­ke. Wall und Über­dach­te schie­nen zu ver­schmel­zen und den Rest der Beleg­schaft mit­zu­rei­ßen. Nahe­zu jedes Spiel wur­de zum Hap­pe­ning gemacht. Die nicht zuletzt ent­lang der Sei­ten­li­nie zele­brier­ten Kon­fet­ti­schlach­ten sind heu­te fes­ter Bestand­teil der Fanhistorie.

Die kicken­den Gäs­te, unter ande­rem aus Essen, Bre­men, Han­no­ver, Ber­lin, Karls­ru­he und allen vor­an Osna­brück, zeig­ten sich schlicht­weg über­for­dert. Dass sogar Bay­ern-Impres­sa­rio Uli Hoe­neß drei Lie­der davon sin­gen kann, was der Tri­bü­nen­fu­ror in Aachen anzu­rich­ten ver­moch­te, ist hin­läng­lich akten­kun­dig. Aber unter ande­rem auch Mann­heim, Duis­burg und Ahlen haben ihre ein­schlä­gi­gen Erfah­run­gen machen dürfen.

Einer die­ser S‑Block-Tage war der 5. April 1999. Regio­nal­li­ga-Nach­hol­kick gegen den Tabel­len­nach­barn Ein­tracht Trier. Nach drei Sie­gen in Fol­ge war man zwar auf Platz fünf gekra­xelt. Doch immer noch fünf Punk­te vom direk­ten Auf­stieg ent­fernt. Ein wei­te­rer Sieg muss­te also her, woll­te man das zar­te Pflänz­chen der Hoff­nung am Leben erhal­ten. Es lief frei­lich wie meis­tens: Die Alemannia agier­te ner­vös. Der Gast war sieb­zig Minu­ten der­ma­ßen über­le­gen, dass ein Punkt­ge­winn als Rie­sen­er­folg zu wer­ten gewe­sen wäre. Aber nicht an die­sem Montagabend.

Schon mit Beginn der zwei­ten Halb­zeit wur­de jeder unfall­freie Ein­wurf der Schwarz-Gel­ben von der Tri­bü­ne fre­ne­tisch beju­belt, jeder Ball­kon­takt der Mose­laner unbarm­her­zig nie­der­ge­pfif­fen. Mit­te des zwei­ten Durch­gangs hat­ten die Hoch­in­fi­zier­ten auf der Über­dach­ten den Rest des Sta­di­ons ange­steckt. Ange­sta­chelt von einer tumult­ar­ti­gen Atmo­sphä­re zeig­te sich die Mann­schaft von Minu­te zu Minu­te ent­schlos­se­ner. In einer ful­mi­nan­ten Schluss­pha­se schoss sie dann tat­säch­lich einen kaum mehr für mög­lich gehal­te­nen 2:0‑Sieg heraus.

Aachens Trai­ner-Legen­de Wer­ner Fuchs gab nach Abpfiff zu Pro­to­koll: „Bevor ich etwas zum Spiel sage, las­sen sie mich den Zuschau­ern dan­ken, die gemerkt haben, dass wir Hil­fe brau­chen, und uns in Spiel zurück­ge­bracht haben.“ Der S‑Block hat­te sein Poten­zi­al voll­ends abge­ru­fen. Nur weni­ge Wochen spä­ter, beim vor­ent­schei­den­den Match gegen den SC Verl, wie­der­hol­te er die­se Num­mer zuverlässig.

Skan­dal­nu­del

Doch am Tivo­li war die Gren­ze zwi­schen Lei­den­schaft und Auf­ruhr stets beson­ders schmal. Oft ver­schwamm sie sogar voll­ends. So war der S‑Block auch immer für einen veri­ta­blen Skan­dal gut. Noch ver­gleichs­wei­se keusch fiel die obli­ga­to­ri­sche Begrü­ßung der Gast­mann­schaf­ten wäh­rend der letz­ten Dritt­li­ga­sai­son aus. Beim Warm­ma­chen wur­den die Spie­ler mit einem erkleck­li­chen Hagel unter ande­rem aus ange­bis­se­nen Bröt­chen, mat­schi­gen Zitrus­früch­ten und ange­nag­ten Apfel­kit­schen emp­fan­gen. Ohne dass sich auch nur eine See­le dar­über auf­reg­te. Weder vor Ort noch in Online-Gästebüchern.

Eine dra­ma­tisch ande­re Qua­li­tät hat­ten die Ereig­nis­se des 24. Novem­ber 2004. Mon­tag­abend. Flut­licht. Spit­zen­spiel. TV-Live­über­tra­gung. Als Tabel­len­zwei­ter emp­fin­gen die Kar­tof­fel­kä­fer den gro­ßen Auf­stiegs­fa­vo­ri­ten Nürn­berg. Mona­te zuvor hat­ten Alemannias Stra­te­gen eine extra­va­gan­te Ent­schei­dung getrof­fen: Um die Wer­be­ban­den vor der Haupt­tri­bü­ne fern­seh­ge­recht prä­sen­tie­ren zu kön­nen, war man mit den Trai­ner­bän­ken auf die gegen­über­lie­gen­de Sei­te gezo­gen. Genau vor den Raubtierkäfig.

An die­sem Mon­tag zeig­te die­se Maß­nah­me Wir­kung. Pro­vo­ka­ti­ons­tech­nisch prä­sen­tier­te sich die Nürn­ber­ger Bank in über­ra­gen­der Form. Die Lun­te brann­te bereits lich­ter­loh, als Erik Mei­jer in der 72. Minu­te eine rote Kar­te der Kate­go­rie obskur sah und auf dem Rasen eine inten­si­ve­re Art der Rudel­bil­dung geübt wur­de. Die Steh­tri­bü­ne reagier­te art­ge­recht. Unzäh­li­ge Gegen­stän­de unter­schied­li­cher Güte­klas­se flo­gen aufs Spiel­feld. Nürn­bergs Mar­tin Dril­ler woll­te das auch mal pro­bie­ren und pfef­fer­te ein Feu­er­zeug zurück in den Block. Der Mob war nicht mehr zu brem­sen. Was dann genau alles pas­sier­te, war in den Tumul­ten nicht auszumachen.

In jedem Fall rekla­mier­te Gäs­te­coach Wolf­gang Wolf für sich die Haupt­rol­le in der Schmie­ren­ko­mö­die. Als ihn einer von etli­chen Bier­be­chern berühr­te – oder auch nicht – sank der ein­ma­li­ge Ama­teur­na­tio­nal­spie­ler zu Boden. Spä­ter prä­sen­tier­te Club-Chef Micha­el A. Roth ein hal­bes Bau­markt-sor­ti­ment als ver­meint­li­che Tatwerkzeuge.

Der auf­grund sei­ner Her­kunft mit ein­schlä­gi­gem Fach­wis­sen aus­ge­stat­te­te FCN-Akteur Sasa Ciric befand „So etwas wie heu­te habe ich bis­her nur in Jugo­sla­wi­en und Maze­do­ni­en erlebt. Wenn so etwas Schu­le macht, muss man um sein Leben fürch­ten, das sind kei­ne Fans, das sind Row­dys.“ Der Rest ist deut­sche Fuß­ball­ge­schich­te: Die Über­dach­te und der Rest-Tivo­li wur­den kom­plett mit Fang­net­zen ver­hüllt. Die Alemannia durf­te das ers­te Geis­ter­spiel in Deutsch­land ausrichten.

Die Joh­nen-Elf und ihr 12. Mann: Klat­sche­rei am Zaun
Foto: Zei­tungs­ver­lag Aachen

Sen­si­bi­li­tät

Bei aller Wild­heit und manch­mal sogar alar­mie­ren­der Bös­ar­tig­keit hat­te man auf der Über­dach­ten stets ein gutes Gespür für die Sache. Man wuss­te Situa­tio­nen und Gege­ben­hei­ten ein­zu­ord­nen. Und sie schal­lend zu bewer­ten. Gleich zwei­mal hat­te der ehe­ma­li­ge, mäßig popu­lä­re Alemannia-Prä­si­dent Hans Bay sei­ne ganz spe­zi­el­len Erleb­nis­se. Am Ende der ers­ten Sai­son nach der Rück­kehr in die zwei­te Liga wur­de Mit­tel­feld­mo­tor und Auf­stiegs­held Erwin Van­der­broeck von Trai­ner Eugen Hach schnö­de aussortiert.

Beim letz­ten bedeu­tungs­lo­sen Heim­spiel gegen Greu­ther Fürth erhielt der Leis­tungs­trä­ger noch nicht ein­mal einen Platz im Kader. Die Ver­ab­schie­dung unter der Regie des Ver­eins­chefs geriet karg. In jedem Fall zu karg für die sehr genau hin­schau­en­den Fans auf der Gegen­ge­ra­de. Erst johl­ten und pfif­fen sie Bay in Grund und Boden. Um dann in eben­sol­cher Orkan­stär­ke Erwin Van­der­broeck minu­ten­lang und auch noch wäh­rend des Spiels zu feiern.

Beim zwei­ten Mal war das Auf­be­geh­ren zwar ein stum­mes. Ver­dammt laut war es den­noch. Im Früh­jahr 2001 wuchs vor allem im Fan­fo­rum des Ver­eins die Kri­tik an Trai­ner und Club­füh­rung. Bay ließ die Online­platt­form hand­streich­ar­tig schlie­ßen. Nicht, ohne die lau­ni­ge Bemer­kung hin­ter­her­zu­schie­ben „Den Dreck lese ich nicht.“ Also ent­schied sich der Dreck, zu schwei­gen. Und zwar beim Heim­spiel gegen den FSV Mainz am 20. April 2001.

Koor­di­niert von den S‑Block-Stamm­kräf­ten Diet­mar Mon­tag und Bernd R. Ment­jes wur­de ein (Ach­tung neu­deutsch!) Stim­mungs­boy­kott orga­ni­siert. „Bis zur zehn­ten Minu­te war es im Sta­di­on mit der gefürch­tets­ten Atmo­sphä­re der Zwei­ten Liga toten­still“, berich­te­te sogar die über­re­gio­na­le Die Welt. Dabei kon­sta­tier­ten die Fans auf Tau­sen­den Papp­ta­feln „Der Dreck schweigt“. Publi­kums­lieb­ling Ste­phan Läm­mer­mann kom­men­tier­te das Sur­rea­le fas­sungs­los: „So ein gespens­ti­sches Sze­na­rio hat­te ich in Aachen nicht für mög­lich gehalten.“

Eher ins Fach Kla­mauk gehör­te eine schier täp­pi­sche Akti­on des Ex-Mar­ke­ting­lei­ters Tho­mas Korr. Der hat­te 2006 die glor­rei­che Idee, der Alemannia ein neu­es Ver­eins­lied ver­pas­sen zu wol­len Die ori­gi­na­le immer­hin 39 Jah­re alte Hym­ne „Aber eins, aber eins …“ war ihm anschei­nend zu unkon­ven­tio­nell für sei­ne Idee einer bra­ven Walt-Dis­ney-Alemannia. Folg­lich rief er zur auf­wän­di­gen Cas­ting­show. Mit dem Aache­ner Kar­ne­vals­ver­ein als art­ge­rech­tem Part­ner an der Seite.

Cham­pi­on wur­den „Die schwarz-gel­ben Fuß­ball­göt­ter“. Sie durf­ten ihre Kan­zo­ne dann auf dem Tivo­li zum Vor­tra­ge brin­gen. Und zwar aus­ge­rech­net vor dem S‑Block. Der zeig­te sich merk­lich erhei­tert und schmet­ter­te den tap­fe­ren Musi­kan­ten tau­send­keh­lig was ent­ge­gen? Rich­tig: ein stil­si­che­res „Aber eins, aber eins …“. Der Auf­tritt der ver­drän­gungs­wür­di­gen Kapel­le wur­de ver­senkt. Über das Pro­jekt warf man den Man­tel tiefs­ten Schweigens.

Lieb­lin­ge

Hat­te Jemand die Auf­merk­sam­keit des S‑Blocks gewon­nen, konn­te er stets mit sen­si­bler Anteil­nah­me rech­nen. Ein beson­de­rer Pfle­ge­fall war der alba­ni­sche Natio­nal­spie­ler Altin Lala. Der besuch­te die Alemannia des Öfte­ren im Dress von Han­no­ver 96. Mit sei­ner pro­vo­kant-thea­tra­li­schen Art der Berufs­aus­übung hat­te der Wusel das Herz der Über­dach­ten im Sturm erobert. Über meh­re­re Sai­sons bedach­ten ihn die Öcher mit geball­ter Hin­ga­be. Jede sei­ner Ball­be­rüh­run­gen wur­de mit Hohn und Spott quittiert.

Kam er auch nur in die Nähe des Zauns, grunz­te es ihn aus Tau­sen­den ver­zerr­ten Frat­zen ent­ge­gen. Man schwenk­te in sorg­fäl­ti­ger Heim­ar­beit gebas­tel­te Tele­tub­bies. Am Gal­gen bau­melnd. Vol­ler Inbrunst wur­de die rot­lich­ti­ge Berufs­wahl von Altins Mama gewür­digt. Und so wei­ter und so fort. Mit erstaun­li­cher Rou­ti­ne ver­lor Lala ob die­ser lie­be­vol­len Behand­lung bei jedem Gast­auf­tritt die Ner­ven. Wie auf Knopf­druck. Die Legen­de sagt, das Heiß­blut hät­te sich sogar ein­mal dazu hin­rei­ßen las­sen, sei­nen Fans auf der Steh­platz­ge­ra­den das ent­blöß­te Hin­ter­teil ent­ge­gen zu strecken.

Foto: Zei­tungs­ver­lag Aachen

„Das sind kei­ne Fans, das sind Rowdys.“

Sasa Ciric, Nürn­ber­ger Sensibelchen

Doch auch Spie­ler der eige­nen Mann­schaft waren nicht per se sicher vor dem S‑Block. Und zwar dann, wenn sie einem ima­gi­nä­ren Ale­man­ni­aide­al ver­meint­lich nicht gerecht wur­den. Ein sol­cher Kan­di­dat war Oli­vi­er Cail­las. Der stürm­te von 2000 bis 2002 bei den Kai­ser­städ­tern. Hier fiel er nur äußerst spo­ra­disch durch atem­be­rau­ben­de Sprint­dribb­lings oder brand­ge­fähr­li­che Straf­raum­ak­tio­nen aus.

Viel­mehr hat­te er sich eine impo­nie­ren­de Artis­tik in der Dis­zi­plin des moti­va­ti­ons­lo­sen Fal­lens ange­eig­net. Damit brach­te er die Geg­ner regel­mä­ßig zur Weiß­glut. Und nerv­te den eige­nen Anhang kolos­sal. Also mach­te man ihm sei­ne Kunst madig. Für Cail­las war das Betriebs­kli­ma vor allem wäh­rend sei­ner zwei­ten Tivo­li-Spiel­zeit kein aus­ge­spro­chen harmonisches.

Bis zur letz­ten Pro­fi­sai­son des alt­ehr­wür­di­gen Tivo­li im Jah­re 2009 blieb der S‑Block das Herz schwarz-gel­ber Fan­kul­tur. Auch wenn er am Ende mehr von sei­nem legen­dä­ren Ruf zehr­te, als dass er noch die alte Fas­zi­na­ti­on aus­strahl­te. Zu sehr hat­ten ihm zum Schluss die Begleit­erschei­nun­gen des moder­nen Fuß­balls zuge­setzt: die zuneh­men­de Even­ti­sie­rung, eine wach­sen­de Bequem­lich­keit des Publi­kums und eine gewis­se Übersättigung.

Und nicht zuletzt die sich auch in Aachen ein­nis­ten­de Ultra­kul­tur. Kon­for­mis­mus, Plan­sup­port, spiel­un­ab­hän­gi­ger humor­be­frei­ter Dau­er­ge­sang, Grell­ver­zicht, eli­tä­res Geha­be oder die Wei­ge­rung, das gesam­te Sta­di­on mit­rei­ßen zu wol­len. All das pass­te nicht zur anar­chi­schen Eigen­tüm­lichk­leit die­ser Tri­bü­ne. Gut, dass nie­mand ernst­haft auf die Idee kam, den Süd­rang des neu­en Sta­di­ons S‑Block zu tau­fen. Das wäre dann ein Eti­ket­ten­schwin­del de luxe gewesen.

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