Der Steu­er­mann

Alles ist friedlich in Bad Nenndorf an diesem späten Freitagabend im April 2006. Das beschauliche Kurstädtchen in der Nähe von Hannover hat schon vor Stunden die Bürgersteige hochgeklappt. Plötzlich dröhnt ein Hupkonzert durch die Stille. In einem heranrollenden Reisebus jubelt und winkt die komplette Mannschaft von Alemannia Aachen. Nur einer sitzt: Albert Thielen. Vorne am Lenkrad.
Foto: Carl Brunn

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Seit der Rück­run­de 03/​04 chauf­fiert der 38-Jäh­ri­ge die Kar­tof­fel­kä­fer durch die Lan­de. An die­sen unge­wöhn­li­chen Abste­cher ins Nie­der­säch­si­sche kann er sich noch sehr genau erin­nern. „Eigent­lich woll­ten wir Trai­ner Hecking nur für ein frei­es Wochen­en­de nach Hau­se brin­gen. Das lag nach dem Spiel bei Ein­tracht Braun­schweig ja qua­si auf dem Weg.“ Doch ange­sichts eines im Ren­nen um den Bun­des­li­ga­auf­stieg vor­ent­schei­den­den 1:0 Aus­wärts­sie­ges soll­te alles ein wenig anders kommen.

Bei der Ankunft im Wohn­ort des dama­li­gen Übungs­lei­ters ent­lud sich die team­in­ter­ne Par­ty­lau­ne in einem spon­ta­nen Tri­umph­zug. Eilig her­bei­ge­schaff­te Geträn­ke mach­ten aus der außer­or­dent­li­chen Dienst­fahrt eine vor­ge­zo­ge­ne Auf­stiegs­fei­er im Vor­gar­ten des Hecking‘schen Hau­ses. Weit spä­ter als geplant mach­te sich der Tross auf den Heim­weg in die Kaiserstadt.

Bay­ern haben den Längeren

Hier schiebt Albert Thie­len unter der Woche Schicht­dienst im Lini­en­ver­kehr der ASEAG. Seit gut einem Jahr­zehnt steht er bei den Aache­ner Ver­kehrs­be­trie­ben in Lohn und Brot. Für ihn, der schon als Kind die rote Flot­te bestaunt und bewun­dert hat­te, ist es nach wie vor der Traum­be­ruf. Nur eine Lei­den­schaft ist ähn­lich alt und aus­ge­prägt wie die für beson­ders gro­ße Autos: die für den Fuß­ball. Dass es der wasch­ech­te Öcher vor allem mit dem Vor­zei­ge­club sei­ner Hei­mat­stadt hält, ver­steht sich dabei von selbst.

Als sein Arbeit­ge­ber im Win­ter 2003 einen neu­en Fah­rer für den all­spiel­täg­lich zur Ver­fü­gung gestell­ten Mann­schafts­bus der Alemannia such­te, mel­de­te sich das lang­jäh­ri­ge Ver­eins­mit­glied umge­hend. Die not­wen­di­ge Erwei­te­rung sei­nes Per­so­nen­be­för­de­rungs­schei­nes bezahl­te er aus der eige­nen Tasche. Ange­sichts der letzt­lich erfolg­rei­chen Bewer­bung eine loh­nens­wer­te Investition.

Wann immer es den Turn­sport­ver­ein seit­her in die Fer­ne zieht, tauscht der ASE­AG-Ange­stell­te sei­ne Uni­form gegen die Kluft des schwarz-gel­ben Betreu­er­sta­bes, parkt den Gelenk­bus in der Gara­ge und steigt auf den Fah­rer­sitz sei­nes Mer­ce­des Tra­ve­go. Der spe­zi­ell umge­bau­te Rei­se­bus genügt selbst aller­höchs­ten Ansprü­chen. „Wir haben eine Fünf-Ster­ne-Aus­stat­tung an Bord. Bay­ern Mün­chen fährt das glei­che Modell“, weiß der Ken­ner der Sze­ne. Regel­mä­ßig tauscht er sich an Spiel­ta­gen mit den Kut­schern der ande­ren Klubs aus. „Deren Bus ist aller­dings drei­ach­sig und zwei Meter län­ger.“ Deutsch­lands Fuß­ball­pri­mus muss halt immer noch einen drauf­set­zen. Oder dranhängen.

Doch auch die nor­mal­kur­ze Ver­si­on hat es mit DVD-Spie­ler, Satel­li­ten­fern­se­hen, Kli­ma­an­la­ge, Tele­fon, Fax­ge­rät, Mas­sa­ge­bank und Küche in sich. Wenn Thie­len über die tech­ni­schen Details refe­riert, schwingt in sei­ner Stim­me Stolz mit. Das 450.000-Euro-Gefährt ist des Fah­rers Aug­ap­fel. Bei einer Sache ver­steht er des­halb auch über­haupt kei­nen Spaß: Vandalismus.

„Ich habe immer ein mul­mi­ges Gefühl, den Bus unbe­auf­sich­tigt neben dem Hotel zu par­ken. In Dres­den hät­te ich am liebs­ten in sei­nem Inne­ren geschlafen.“

Des Fah­rers Aug­ap­fel ist sein Gefährt

In unschö­ner Regel­mä­ßig­keit kommt es vor, dass sich halb­star­ke Anhän­ger der gast­ge­ben­den Ver­ei­ne auf dem Bus ver­ewi­gen wol­len. Ein gift­grü­nes „Stuttgart“-Graffiti und ein bis auf das Blech ein­ge­ritz­ter „KSC“-Schriftzug zeu­gen davon, dass die­se Unsit­te in Baden-Würt­tem­berg beson­de­re Beliebt­heit genießt. Solch ein­schnei­den­de Erleb­nis­se hin­ter­las­sen natür­lich auch Spu­ren im Gemüt. „Ich habe seit­her immer ein mul­mi­ges Gefühl, den Bus unbe­auf­sich­tigt neben dem Hotel zu par­ken. In Dres­den hät­te ich am liebs­ten in sei­nem Inne­ren geschlafen.“

Doch die ver­meint­lich schwär­zes­ten Scha­fe unter Deutsch­lands Fuß­ball­fans über­rasch­ten den besorg­ten Fah­rer posi­tiv. Nichts pas­sier­te. Auch in Ros­tock blieb am Quar­tier alles ruhig. Dort wur­de das Gefährt aller­dings bei der Abfahrt vom Sta­di­on bespuckt, getre­ten und mit Gegen­stän­den bewor­fen. Thie­len ist nicht son­der­lich trau­rig, dass Han­sa in der aktu­el­len Serie auf dem Spiel­plan fehlt.

Eine Fra­ge der Ehre

Auch ohne Trip an die Ost­see haben Mensch und Maschi­ne eini­ges an Ent­fer­nun­gen zurück­zu­le­gen. Allein für die 17 Aus­wärts­par­tien in der Liga kom­men in die­ser Sai­son 11688 Kilo­me­ter zusam­men. Addiert man noch die Fahr­ten zu Pokal- und Freund­schafts­spie­len sowie Trai­nings­la­gern hin­zu, legt Thie­len ins­ge­samt etwa eine hal­be Erd­um­run­dung im Diens­te des schwarz-gel­ben Fuß­balls hin. Obwohl er die meis­ten Sta­di­en inzwi­schen im Schlaf fin­den könn­te, berei­tet sich der Hun­dert­pro­zen­ti­ge gewis­sen­haft auf jede Tour vor.

„Am liebs­ten wür­de Albert die Stre­cke einen Tag vor­her abfah­ren, damit ihm auch ja kei­ne Bau­stel­le entgeht.“

Zeug­wart Micha­el Förs­ter über den hun­dert­pro­zen­ti­gen Chauffeur

Aus­dru­cke von Rou­ten­pla­nern am Arma­tu­ren­brett, Atlas auf dem Schoß, Navi­ga­ti­ons­sys­tem und Ver­kehrs­funk im Ohr: Albert Thie­len über­lässt nichts dem Zufall. Für ihn ist eine rei­bungs­lo­se Anrei­se Ehren­sa­che. „Am liebs­ten wür­de Albert die Stre­cke einen Tag vor­her abfah­ren, damit ihm auch ja kei­ne Bau­stel­le ent­geht.“ Zeug­wart Micha­el Förs­ter ist ob der akku­ra­ten Vor­be­rei­tung des Fah­rers immer wie­der über­rascht. Vom Bei­fah­rer­sitz hat er einen guten Blick auf das Gesche­hen am Lenkrad.

Selbst wei­ter hin­ten im Bus bleibt Thie­lens Ein­satz nicht ver­bor­gen. Die Kicker schät­zen ihn und zah­len es auf ihre Art zurück. Ende Sep­tem­ber in Fürth etwa lief die Mann­schaft zu Fuß zum Abschluss­trai­ning, um ihrem Fah­rer die gesetz­lich vor­ge­schrie­be­ne Ruhe­zeit zu ermög­li­chen. Sol­che klei­nen Auf­merk­sam­kei­ten freu­en Albert Thie­len. Ohne­hin fühlt er sich von der gesam­ten Trup­pe als voll­wer­ti­ges Mit­glied akzep­tiert und inte­griert. Bei den Mahl­zei­ten sitzt er am Betreu­er­tisch, abends in der Hotel­bar gönnt er sich mit Mas­seu­ren und Zeug­war­ten einen Fei­er­abend­spru­del. Aus Prin­zip trinkt Thie­len kei­nen Alko­hol, wenn er den Bus­schlüs­sel in der Hosen­ta­sche hat.

Auch mit den sport­lich Ver­ant­wort­li­chen pflegt er einen mehr als nur freund­li­chen Umgang. Bis­her boten ihm alle prompt das Du an. Fast alle. Der letz­te Coach stell­te sich mit „Ich bin der Herr Buch­wald“ vor. Für Thie­len mach­te das kei­nen Unter­schied. „Ich habe ihn ein­fach mit ‚Trai­ner‘ ange­spro­chen. Das hat schließ­lich jeder so gemacht.“ Trai­ner, Sport­di­rek­tor, Jörg oder Herr Schmadt­ke: Beim der­zei­ti­gen Inte­rims­trai­ner hat Thie­len in Sachen Anre­de freie Auswahl.

Nur Flie­gen ist schöner

Vor allem Herrn Buch­walds Vor­gän­ger wuss­te um den Wert des Fah­rers. Als Micha­el Front­zeck vor dem Aus­wärts­spiel bei Ein­tracht Frank­furt ein Trai­nings­la­ger zur Stär­kung des Mit­ein­an­ders ein­be­rief, bestand der Ex-Trai­ner dar­auf, den Mann­schaft­schauf­feur dabei­zu­ha­ben. Schließ­lich stellt sich die­ser bei jedem Aus­wärts­spiel uner­müd­lich in den Dienst des Teams. Weit mehr, als sein Tätig­keits­pro­fil verlangt.

Wäh­rend des gesam­ten Auf­ent­halts steht Thie­len den Män­nern um Micha­el Förs­ter tat­kräf­tig zur Sei­te. „Albert ist ein Super­typ. Immer moti­viert und hilfs­be­reit. Und abso­lut enga­giert“, ist der Zeug­wart voll des Lobes. „Es macht Spaß, mit ihm zu arbei­ten.“ Der Fan Albert Thie­len kommt bei allem Enga­ge­ment aber etwas kurz. Für den ist das Spiel vor­bei, wenn es in die eigent­lich ent­schei­den­de Pha­se geht. Eine Vier­tel­stun­de vor dem Schluss­pfiff muss Thie­len das Sta­di­on­in­ne­re ver­las­sen. Dann gilt es, den Bus vor die Kabi­nen­tür zu fah­ren. Auch die Heim­rei­se soll pro­blem­los ablau­fen. All­zu oft muss sich Thie­len nach dem End­stand erkundigen.

Foto: Carl Brunn

Doch der um den Spiel­aus­gang Gebrach­te beklagt sich nicht. Dienst ist schließ­lich Dienst. Immer­hin blei­ben zum Fuß­ball­ge­nuss noch die Heim­par­tien. Da hat Albert Thie­len frei. „Ich könn­te eine Dau­er­kar­te für die Haupt­tri­bü­ne haben. Als Dank für mei­ne Arbeit.“ Doch vor jeder Sai­son schlägt er die Offer­te, die manch ande­ren rei­zen wür­de, aus. „Das ist nicht meins. Ich ste­he lie­ber auf der Gegen­ge­ra­den im Block S.

Zu einer Hand­voll von Heim­spie­len hat Thie­len dann doch den Bus len­ken müs­sen. Beim UEFA-Pokal in Köln. Die Aus­wärts­tou­ren nach Euro­pa, mit Aus­nah­me vom Aus in Alk­maar, ende­ten für ihn hin­ge­gen am Flug­ha­fen. Den Rest der Rei­sen bestritt die Mann­schaft per Flie­ger. Ihr Fah­rer muss­te zu Hau­se blei­ben. Aber bis zur nächs­ten Teil­nah­me der Alemannia am inter­na­tio­na­len Geschäft hat er bestimmt noch aus­rei­chend Zeit, einen Flug­schein zu machen. Auf eige­ne Kos­ten, ver­steht sich.

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