Noch nicht Endstation

Der Rasen ist sein Arbeitsplatz, das runde Leder sein Handwerkszeug. Thomas Hengen hat beide schon lange nicht mehr be- oder getreten. Während seine Kollegen um Stammplätze, Ballbesitz und Punkte kämpfen, ringt der Langzeitverletzte um den Erhalt seiner Karriere. Ein Happy End ist noch nicht in Sicht. Ebenso wenig aber auch der Nagel, um die Fußballschuhe dranzuhängen.
Foto: Carl Brunn

4 Min. Lesezeit

Nein, um Alter­na­ti­ven zum Fuß­bal­ler­sein hat sich Tho­mas Hen­gen noch kei­ne Gedan­ken gemacht. „Man soll ein neu­es Buch nicht auf­schla­gen, wenn man das alte noch nicht zuge­klappt hat.“ In der Tat gibt es für ihn auch kei­nen Grund, die Hoff­nung aufzugeben.

Pro­gno­sen jeg­li­cher Art kämen zum jet­zi­gen Zeit­punkt der Reha­bi­li­ta­ti­ons­pha­se noch viel zu früh. Doch die in der ver­gan­ge­nen Win­ter­pau­se dia­gnos­ti­zier­te Ent­zün­dung im rech­ten Hüft­ge­lenk scheint fürs Ers­te unter Kon­trol­le gebracht. Seit eini­gen Wochen darf der 30-Jäh­ri­ge zumin­dest wie­der aufs Moun­tain­bike stei­gen und die Tram­pel­pfa­de des Öcher Bösch erkun­den. „Aachen und sei­ne Umge­bung sind wirk­lich male­risch. Die Wald­we­ge ken­ne ich inzwi­schen wie mei­ne Wes­ten­ta­sche“, kann er die­sen Aus­fahr­ten durch­aus etwas Posi­ti­ves abgewinnen.

Neu­er Ver­ein, neue Aufgabe

Doch die Schön­heit der Natur wird bestimmt nicht der Haupt­grund für den Ver­eins­wech­sel im Som­mer 2004 gewe­sen sein. Eine neue sport­li­che Her­aus­for­de­rung suchend, zog es den gebür­ti­gen Pfäl­zer aus der Hei­mat ins Grenz­land, vom Bet­zen­berg an den Tivo­li. Mit 224 Erst­li­ga­ein­sät­zen im Gepäck woll­te er sich erst­mals im Unter­haus beweisen.

„Neu­er Ver­ein, neue Auf­ga­be und die Som­mer­pau­se end­lich vor­bei: Ich war froh, als es los­ging, und habe mich mäch­tig ins Zeug gelegt“, blickt er zurück. Die Sai­son­vor­be­rei­tung lief zu Beginn her­vor­ra­gend. In jedem der neun Test­spie­le bekam der ver­hei­ßungs­vol­le Neu­zu­gang sei­ne Ein­satz­zeit. Die­se weni­gen Auf­trit­te soll­ten aber sei­ne bis­lang ein­zi­gen im Dress der Alemannia blei­ben. Schon zu die­ser Zeit wur­den er und die zu Rate gezo­ge­nen Ärz­te durch einen uner­klär­li­chen Fit­ness­ab­fall vor Rät­sel gestellt.

Eine Ursa­che ließ sich zunächst nicht fin­den. Die Suche zog sich über die gesam­te Hin­run­de. Von Pon­ti­us zu Pila­tus wur­de Tho­mas Hen­gen geschickt, bekam dabei die gesam­te Palet­te der medi­zi­ni­schen Dia­gnos­tik gebo­ten. Selbst eine Kno­chen­marks­pro­be ließ er sei­nem Brust­bein entnehmen.

„Es mag zwar komisch klin­gen, aber mit Bekannt­wer­den der Dia­gno­se fiel ein regel­rech­ter Druck von mir ab. Zwi­schen­zeit­lich hat­te ich wirk­lich geglaubt, das Fuß­ball­spie­len ver­lernt zu haben.“

Tho­mas Hen­gen über das befrei­en­de Ende eines medi­zi­ni­schen Rätselratens

Wäh­rend die­ser Zeit trai­nier­te er wei­ter mit der Mann­schaft, stand bei eini­gen Par­tien auch im Kader. Aber nicht eine ein­zi­ge Pflicht­spiel­mi­nu­te konn­te der Bun­des­li­ga­rou­ti­nier für den Turn­sport­ver­ein bestrei­ten. Erst mit der Ent­de­ckung der Ent­zün­dung gab es für ihn die Gewiss­heit, an die­ser Situa­ti­on schuld­los zu sein. „Es mag zwar komisch klin­gen, aber mit Bekannt­wer­den der Dia­gno­se fiel ein regel­rech­ter Druck von mir ab. Zwi­schen­zeit­lich hat­te ich wirk­lich geglaubt, das Fuß­ball­spie­len ver­lernt zu haben“, beschreibt er sei­ne dama­li­ge Gefühlslage.

Zur Höchst­stra­fe verdammt

Der anfäng­li­chen Erleich­te­rung folg­te schon bald Ernüch­te­rung. Bis auf wei­te­res erteil­ten die Ärz­te dem schwarz-gel­ben Pati­en­ten Trai­nings­ver­bot. Für die ers­ten drei­ein­halb Mona­te wur­de ihm sogar jeg­li­che kör­per­li­che Belas­tung unter­sagt. Nach Jah­ren mit „Fünf gegen Zwei“, Wald­lauf und Tor­schuss­trai­ning sah er sich plötz­lich nur noch Tätig­kei­ten wie Stret­chen und Schwim­men gegenüber.

Foto: Carl Brunn

„Für jeden Mann­schafts­sport­ler bedeu­tet es die Höchst­stra­fe, zum Allei­ne-Ackern ver­dammt zu sein. Es gibt nichts Bes­se­res, als mit dem Team auf dem Platz zu ste­hen“, hat der Ein­zel­kämp­fer wider Wil­len ein kla­res Ziel vor Augen. Aber Vor­sicht ist die Mut­ter auch die­ser Por­zel­lan­kis­te. Lang­sa­mer Belas­tungs­auf­bau ist gefragt. Ein erneu­tes Aus­bre­chen der Ent­zün­dung wäre fatal.

So bleibt Tho­mas Hen­gen vor­erst nur das Fei­ern von Teil­erfol­gen wie der Erlaub­nis zum Moun­tain­bi­ken. Unter­stüt­zung erhält er in die­ser Hin­sicht von sei­nen Vor­ge­setz­ten. Die sport­li­che Lei­tung lässt ihn in Ruhe an sei­ner Rück­kehr arbei­ten, erkun­digt sich ledig­lich in regel­mä­ßi­gen Abstän­den nach dem Sta­tus quo. Zeit­li­che Vor­ga­ben gibt es nicht. Der Rekon­va­les­zent weiß die­se Geduld zu schätzen.

Ähn­li­ches wür­de er sich auch von dem Teil der Fans wün­schen, der ihn schein­bar bereits abge­schrie­ben hat. Die Inter­net­frak­ti­on die­ser Schwarz­se­her hat schon mehr­fach unschö­ne Schmie­re­rei­en im Gäs­te­buch sei­ner Home­page hin­ter­las­sen. Vor­aus­sa­gen, er wür­de es nicht packen, las­sen ihn dabei käl­ter als der völ­lig aus der Luft gegrif­fe­ne Vor­wurf des Abzo­cker­tums. Als Lang­zeit­ver­letz­ter liegt er dem Ver­ein kei­nes­falls auf der Tasche. Wie bei jedem Arbeit­neh­mer hat die Kran­ken­kas­se ab der sechs­ten Woche der Krank­schrei­bung die Lohn­zah­lung übernommen.

„Mich errei­chen auch regel­mä­ßig Grü­ße und Gene­sungs­wün­sche. Es tut gut, Rück­halt unter den Anhän­gern zu spüren.“

Bei Tho­mas Hen­gen ist Zuspruch jeder Art herz­lich willkommen

Trotz die­ser Anfein­dun­gen liegt es dem zu Unrecht Beschul­dig­ten fern, von die­sen schwar­zen Scha­fen auf die Gesamt­heit der Ale­man­nia­ver­rück­ten zu schlie­ßen. „Mich errei­chen auch regel­mä­ßig Grü­ße und Gene­sungs­wün­sche. Es tut gut, Rück­halt unter den Anhän­gern zu spü­ren“, zeigt sich der offen­sicht­lich nicht Ver­ges­se­ne basis­nah. Gro­ße Stü­cke hält er auf die schwarz-gel­be Fan­schar. Nicht zuletzt ihret­we­gen fühlt sich der von einem Seu­chen­jahr Gebeu­tel­te pudel­wohl beim Ver­ein von der Kre­fel­der Straße.

Den Haupt­grund für die­sen Umstand macht er aller­dings an der Stim­mung im Team fest. „Es geht hier regel­recht fami­li­är zu. In zwölf Pro­fi­jah­ren habe ich noch nicht erlebt, dass eine Mann­schaft nach Sai­son­ab­schluss gemein­sam für drei Tage nach Mal­lor­ca fliegt“, begeis­tert ihn der Zusam­men­halt. Wann immer es geht, sucht er im Krei­se der Kol­le­gen Abwechs­lung vom ein­tö­ni­gen Reha-Alltag.

Teil des Kollektivs

Mehr als gemein­sa­me Abend­ak­ti­vi­tä­ten und Besu­che bei Test­spie­len der gear­de abge­lau­fe­nen Sai­son­vor­be­rei­tung lässt das straf­fe Pro­gramm jedoch nicht zu. Der Haupt­teil des Kon­takts läuft tele­fo­nisch ab. Auf die­sem Weg sind die Man­nen um Erik Mei­jer immer auf dem Lau­fen­den und neh­men Anteil am Schick­sal ihrer Num­mer 22.

„Tho­mas geht mit die­ser schwie­ri­gen Situa­ti­on ganz her­vor­ra­gend um“, zollt der Kapi­tän dem ver­hin­der­ten Mit­spie­ler Respekt. „Er ist für uns ein eben­so voll­wer­ti­ges Mann­schafts­mit­glied wie die Jungs, die spie­len. Und wir ver­su­chen, ihm das bei jeder Gele­gen­heit zu ver­mit­teln.“ Mit Erfolg. Auch wenn er das oft bemüh­te „geils­te Jahr der Ver­eins­ge­schich­te“ nahe­zu durch­ge­hend in Aache­ner Arzt­pra­xen und Lau­ren­sber­ger Reha-Zen­tren ver­bracht hat, fühlt sich Tho­mas Hen­gen als Teil des Kol­lek­tivs Alemannia.

„Es war auf jeden Fall eine tol­le Erfah­rung, ein­mal die ‚ande­re‘ Sei­te des Fuß­balls ken­nen zu lernen.“

Im Namen des TSV hat Tho­mas Hen­gen erst­mals kom­men­de Geg­ner beobachtet

Und er will das Sei­ne zum Errei­chen gemein­sa­mer Zie­le bei­tra­gen. So stellt sich der sport­lich zur Taten­lo­sig­keit Gezwun­ge­ne von Zeit zu Zeit auf ande­re Art in den Dienst des Ver­eins. Beim Beob­ach­ten anste­hen­der Geg­ner mit Co-Trai­ner Dirk Brem­ser betrat er im Namen des TSV fuß­bal­le­ri­sches Neu­land. Die Akri­bie, mit der bei die­sen Stipp­vi­si­ten zu Wer­ke gegan­gen wird, hat den Aus­hilfs­spi­on beein­druckt, der Umfang der Noti­zen ihn ver­blüfft. „Es war auf jeden Fall eine tol­le Erfah­rung, ein­mal die ‚ande­re‘ Sei­te des Fuß­balls ken­nen zu ler­nen“, fällt sein Resü­mee die­ses Qua­si-Prak­ti­kums sehr ein­deu­tig aus.

Ob er irgend­wann auf die­se Sei­te wech­seln wird, ist unklar. Sei­ne Anmel­dung zur Fuß­ball­leh­rer­aus­bil­dung liegt dem DFB zwar vor, noch will sich Tho­mas Hen­gen aber nicht recht damit befas­sen. Denn das aktu­el­le Buch hat er noch lan­ge nicht zugeschlagen.

Vorheriger Beitrag

Der Duft des Geldes

Nächster Beitrag

Die König­li­chen vom Kehrweg

Sozia­le Aachener

Pratsch ins Postfach

Trag Dich ein, um von uns hin und wieder mit Neuigkeiten versorgt zu werden.

Mails kommen häufiger als unsere Hefte, aber garantiert nicht so, dass es nerven würde. Wir senden auch keinen Spam! Erfahre mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Insta­gram

Über den Pratsch

Als wir die ersten Buchstaben tippten, um unsere fixe Idee eines Alemannia-Magazins in die Tat umzusetzen, spielte Henri Heeren noch in Schwarz-Gelb. Jupp Ivanovic machte drei Buden am Millerntor und trotzdem träumte niemand von Bundesliga oder Europapokal. Das ist lange her. In der Zwischenzeit waren wir mit dem TSV ganz oben. Wir sind mit ihm ziemlich unten. Aufgehört haben wir unterwegs irgendwie nie. Neue Ausgaben kamen mal in größeren, mal in kleineren Abständen. Und jetzt schreiben wir halt auch noch das Internet voll.

Letz­te Ausgabe