Nein, um Alternativen zum Fußballersein hat sich Thomas Hengen noch keine Gedanken gemacht. „Man soll ein neues Buch nicht aufschlagen, wenn man das alte noch nicht zugeklappt hat.“ In der Tat gibt es für ihn auch keinen Grund, die Hoffnung aufzugeben.
Prognosen jeglicher Art kämen zum jetzigen Zeitpunkt der Rehabilitationsphase noch viel zu früh. Doch die in der vergangenen Winterpause diagnostizierte Entzündung im rechten Hüftgelenk scheint fürs Erste unter Kontrolle gebracht. Seit einigen Wochen darf der 30-Jährige zumindest wieder aufs Mountainbike steigen und die Trampelpfade des Öcher Bösch erkunden. „Aachen und seine Umgebung sind wirklich malerisch. Die Waldwege kenne ich inzwischen wie meine Westentasche“, kann er diesen Ausfahrten durchaus etwas Positives abgewinnen.
Neuer Verein, neue Aufgabe
Doch die Schönheit der Natur wird bestimmt nicht der Hauptgrund für den Vereinswechsel im Sommer 2004 gewesen sein. Eine neue sportliche Herausforderung suchend, zog es den gebürtigen Pfälzer aus der Heimat ins Grenzland, vom Betzenberg an den Tivoli. Mit 224 Erstligaeinsätzen im Gepäck wollte er sich erstmals im Unterhaus beweisen.
„Neuer Verein, neue Aufgabe und die Sommerpause endlich vorbei: Ich war froh, als es losging, und habe mich mächtig ins Zeug gelegt“, blickt er zurück. Die Saisonvorbereitung lief zu Beginn hervorragend. In jedem der neun Testspiele bekam der verheißungsvolle Neuzugang seine Einsatzzeit. Diese wenigen Auftritte sollten aber seine bislang einzigen im Dress der Alemannia bleiben. Schon zu dieser Zeit wurden er und die zu Rate gezogenen Ärzte durch einen unerklärlichen Fitnessabfall vor Rätsel gestellt.
Eine Ursache ließ sich zunächst nicht finden. Die Suche zog sich über die gesamte Hinrunde. Von Pontius zu Pilatus wurde Thomas Hengen geschickt, bekam dabei die gesamte Palette der medizinischen Diagnostik geboten. Selbst eine Knochenmarksprobe ließ er seinem Brustbein entnehmen.
„Es mag zwar komisch klingen, aber mit Bekanntwerden der Diagnose fiel ein regelrechter Druck von mir ab. Zwischenzeitlich hatte ich wirklich geglaubt, das Fußballspielen verlernt zu haben.“
Thomas Hengen über das befreiende Ende eines medizinischen Rätselratens
Während dieser Zeit trainierte er weiter mit der Mannschaft, stand bei einigen Partien auch im Kader. Aber nicht eine einzige Pflichtspielminute konnte der Bundesligaroutinier für den Turnsportverein bestreiten. Erst mit der Entdeckung der Entzündung gab es für ihn die Gewissheit, an dieser Situation schuldlos zu sein. „Es mag zwar komisch klingen, aber mit Bekanntwerden der Diagnose fiel ein regelrechter Druck von mir ab. Zwischenzeitlich hatte ich wirklich geglaubt, das Fußballspielen verlernt zu haben“, beschreibt er seine damalige Gefühlslage.
Zur Höchststrafe verdammt
Der anfänglichen Erleichterung folgte schon bald Ernüchterung. Bis auf weiteres erteilten die Ärzte dem schwarz-gelben Patienten Trainingsverbot. Für die ersten dreieinhalb Monate wurde ihm sogar jegliche körperliche Belastung untersagt. Nach Jahren mit „Fünf gegen Zwei“, Waldlauf und Torschusstraining sah er sich plötzlich nur noch Tätigkeiten wie Stretchen und Schwimmen gegenüber.
„Für jeden Mannschaftssportler bedeutet es die Höchststrafe, zum Alleine-Ackern verdammt zu sein. Es gibt nichts Besseres, als mit dem Team auf dem Platz zu stehen“, hat der Einzelkämpfer wider Willen ein klares Ziel vor Augen. Aber Vorsicht ist die Mutter auch dieser Porzellankiste. Langsamer Belastungsaufbau ist gefragt. Ein erneutes Ausbrechen der Entzündung wäre fatal.
So bleibt Thomas Hengen vorerst nur das Feiern von Teilerfolgen wie der Erlaubnis zum Mountainbiken. Unterstützung erhält er in dieser Hinsicht von seinen Vorgesetzten. Die sportliche Leitung lässt ihn in Ruhe an seiner Rückkehr arbeiten, erkundigt sich lediglich in regelmäßigen Abständen nach dem Status quo. Zeitliche Vorgaben gibt es nicht. Der Rekonvaleszent weiß diese Geduld zu schätzen.
Ähnliches würde er sich auch von dem Teil der Fans wünschen, der ihn scheinbar bereits abgeschrieben hat. Die Internetfraktion dieser Schwarzseher hat schon mehrfach unschöne Schmierereien im Gästebuch seiner Homepage hinterlassen. Voraussagen, er würde es nicht packen, lassen ihn dabei kälter als der völlig aus der Luft gegriffene Vorwurf des Abzockertums. Als Langzeitverletzter liegt er dem Verein keinesfalls auf der Tasche. Wie bei jedem Arbeitnehmer hat die Krankenkasse ab der sechsten Woche der Krankschreibung die Lohnzahlung übernommen.
„Mich erreichen auch regelmäßig Grüße und Genesungswünsche. Es tut gut, Rückhalt unter den Anhängern zu spüren.“
Bei Thomas Hengen ist Zuspruch jeder Art herzlich willkommen
Trotz dieser Anfeindungen liegt es dem zu Unrecht Beschuldigten fern, von diesen schwarzen Schafen auf die Gesamtheit der Alemanniaverrückten zu schließen. „Mich erreichen auch regelmäßig Grüße und Genesungswünsche. Es tut gut, Rückhalt unter den Anhängern zu spüren“, zeigt sich der offensichtlich nicht Vergessene basisnah. Große Stücke hält er auf die schwarz-gelbe Fanschar. Nicht zuletzt ihretwegen fühlt sich der von einem Seuchenjahr Gebeutelte pudelwohl beim Verein von der Krefelder Straße.
Den Hauptgrund für diesen Umstand macht er allerdings an der Stimmung im Team fest. „Es geht hier regelrecht familiär zu. In zwölf Profijahren habe ich noch nicht erlebt, dass eine Mannschaft nach Saisonabschluss gemeinsam für drei Tage nach Mallorca fliegt“, begeistert ihn der Zusammenhalt. Wann immer es geht, sucht er im Kreise der Kollegen Abwechslung vom eintönigen Reha-Alltag.
Teil des Kollektivs
Mehr als gemeinsame Abendaktivitäten und Besuche bei Testspielen der gearde abgelaufenen Saisonvorbereitung lässt das straffe Programm jedoch nicht zu. Der Hauptteil des Kontakts läuft telefonisch ab. Auf diesem Weg sind die Mannen um Erik Meijer immer auf dem Laufenden und nehmen Anteil am Schicksal ihrer Nummer 22.
„Thomas geht mit dieser schwierigen Situation ganz hervorragend um“, zollt der Kapitän dem verhinderten Mitspieler Respekt. „Er ist für uns ein ebenso vollwertiges Mannschaftsmitglied wie die Jungs, die spielen. Und wir versuchen, ihm das bei jeder Gelegenheit zu vermitteln.“ Mit Erfolg. Auch wenn er das oft bemühte „geilste Jahr der Vereinsgeschichte“ nahezu durchgehend in Aachener Arztpraxen und Laurensberger Reha-Zentren verbracht hat, fühlt sich Thomas Hengen als Teil des Kollektivs Alemannia.
„Es war auf jeden Fall eine tolle Erfahrung, einmal die ‚andere‘ Seite des Fußballs kennen zu lernen.“
Im Namen des TSV hat Thomas Hengen erstmals kommende Gegner beobachtet
Und er will das Seine zum Erreichen gemeinsamer Ziele beitragen. So stellt sich der sportlich zur Tatenlosigkeit Gezwungene von Zeit zu Zeit auf andere Art in den Dienst des Vereins. Beim Beobachten anstehender Gegner mit Co-Trainer Dirk Bremser betrat er im Namen des TSV fußballerisches Neuland. Die Akribie, mit der bei diesen Stippvisiten zu Werke gegangen wird, hat den Aushilfsspion beeindruckt, der Umfang der Notizen ihn verblüfft. „Es war auf jeden Fall eine tolle Erfahrung, einmal die ‚andere‘ Seite des Fußballs kennen zu lernen“, fällt sein Resümee dieses Quasi-Praktikums sehr eindeutig aus.
Ob er irgendwann auf diese Seite wechseln wird, ist unklar. Seine Anmeldung zur Fußballlehrerausbildung liegt dem DFB zwar vor, noch will sich Thomas Hengen aber nicht recht damit befassen. Denn das aktuelle Buch hat er noch lange nicht zugeschlagen.