Diesmal sind es weder Lebensmittel noch Eichenmöbel, die ins Nachbarland locken, sondern das Stadion am Kehrweg. Auf seinem Berg zwischen der Eupener Ober- und Unterstadt ist es schon von weitem gut sichtbar, insbesondere abends, wenn sich das Flutlicht eindrucksvoll gegen den Abendhimmel abhebt.
Hier trägt die Königliche Allgemeine Sportvereinigung Eupen, kurz AS Eupen, ihre Heimspiele aus. Mit dem „Königlich“ im Namen und den weißen Trikots am Leib haben sich die Gemeinsamkeiten mit Real Madrid aber auch schon erschöpft. Auf dem Parkplatz hinter der Haupttribüne drängeln sich ein Traktor und zahlreiche PKW, deren Fabrikate verraten, dass in Eupen keine fürstlichen Gehälter gezahlt werden. Chromblitzende Luxuskarossen aus dem Schwäbischen sucht man vergebens.
Nüchterne Zweckmäßigkeit
Dass hier so viel los ist, hat einen einfachen Grund: beim sportlichen Aushängeschild der Nachbarstadt ist heute der Sommerurlaub des Profikaders zu Ende gegangen. Im Business Club geben Vizepräsident und Trainer die Marschroute für die neue Saison an die Mannschaft aus. Zeit genug, sich ein wenig im Stadioninnenraum umzusehen.
Vorbei an einem zerschlissenen Sofa, auf dem wohl schon so mancher Nachwuchsspieler sein Probetraining verschlafen hat, geht es den Spielertunnel hinab auf den grünen Rasen. Das Stadion in seinem aktuellen Bauzustand strahlt nüchterne Zweckmäßigkeit aus. In den vergangenen zwölf Jahren hat der Verein in klassisch belgischer Etappenbauweise peu à peu marode Tribünenteile geschleift und durch Neubauten ersetzt. So wie das Geld gerade vorhanden war und es die Auflagen vorgaben.
Edle Büros, Shops und Aufzüge sucht man vergeblich. Hier ist alles ein paar Nummern kleiner als im Stade de Sclessin zu Lüttich oder im Parkstad Limburg Stadion von Roda JC Kerkrade. Wer sich aber einmal in den unteren belgischen Spielklassen umgetan und den morbiden Charakter halbverfallener Stadien kennengelernt hat, wird ermessen können, was der Verein, unterstützt von der Deutschsprachigen Gemeinschaft, bei der Modernisierung des Stadions geleistet hat.
Bescheidene Mittel, bescheidene Ziele
Im Inneren der Haupttribüne, dem Prunkstück des Stadions, ist die Besprechung beendet. Die Spieler brechen in Richtung Trainingsplatz auf. Mit dabei ist Michaël Goossens. Die spektakuläre Verpflichtung des ehemaligen Schalkers hat unlängst für reichlich Gesprächsstoff im Städtchen gesorgt. Nicht nur das Grenzecho rieb sich verwundert die Augen ob der Frage, wie der in finanziellen Dingen hervorragend beleumundete Verein einen solchen Star anlanden konnte.
Foto: Carl Brunn
Das weiß niemand besser als Vizepräsident Ralph Lentz, als Jurist für die Verträge mit dem kickenden Personal verantwortlich. Was er in der VIP-Lounge unter den Augen des windschief an der Wand hängenden Bildes des belgischen Königspaares über die Hintergründe des Wechsels verrät, klingt einleuchtend und unspektakulär zugleich: „Goossens hat auf viel Geld verzichtet, weil er sich sportlich neu positionieren wollte. Er hatte ein Angebot von Eintracht Trier vorliegen, hätte dort das Dreifache verdienen können. Aber er hat sich für uns entschieden, da er nur 20 Minuten von Eupen entfernt wohnt und hier in der Region seinen Lebensmittelpunkt hat.“
Dass die AS in der Branche den Ruf eines zuverlässigen Zahlers genießt, dürfte dem Ex-Nationalspieler Belgiens eine nicht unwesentliche Entscheidungshilfe an die Hand gegeben haben.
Trotz dieser namhaften Verpflichtung bleibt der im Umbruch befindlichen jungen Truppe des erfahrenen Trainers Marc Grosjean wohl nur die Außenseiterrolle. In den Absteigern Mons und Oostende sieht Ralph Lentz die ersten Anwärter auf den Aufstieg, gefolgt von den finanziell starken Neulingen aus der dritten Division, Lommel und Mechelen. Auch Antwerpen und Geel könnten im Kampf um die oberen Plätze ein Wörtchen mitreden.
Der Überraschungseffekt der Saison 2002/03, als dem Aufsteiger aus Eupen beinahe der direkte Durchmarsch in die Königsklasse geglückt wäre, ist verbraucht. Damals wurden die Schwarz-Weißen im letzten Spiel der Aufstiegsrunde noch abgefangen, als sie kurz vor Schluss nach 1:0‑Führung noch 1:2 verloren. Schon ein Unentschieden hätte zum Aufstieg gereicht.
„In finanzieller Hinsicht wäre die erste Liga für uns kein Abenteuer.“
Vizepräsident Ralph Lentz
Eine Dramaturgie, die in Aachen die unausrottbare Diskussion über fehlenden Aufstiegswillen oder geheimnisvolle Aufstiegsverbote neu entfacht hätte. Einen solchen Verdacht räumt Vizepräsident Ralph Lentz schnell aus: „In finanzieller Hinsicht wäre die erste Liga für uns kein Abenteuer.“ Immerhin werde in Belgiens Eliteklasse im Vergleich zum Unterhaus das Zwanzigfache an Fernsehgeldern ausgeschüttet. Zwar streichen Brügge, Anderlecht und Standard Lüttich den Löwenanteil ein, weil sich der Verteilungsschlüssel an den Tabellenplätzen der letzten fünf Jahre orientiert. Es bleibe aber genug übrig, um die Entwicklung der AS Eupen weiter voranzutreiben.
Von den Zuschauern unabhängig
Mit einem die Einnahmesituation signifikant verbessernden Anstieg der Zuschauerzahlen wäre in der ersten Liga kaum zu rechnen. Schließlich leben in der drittkleinsten Zweitligastadt Belgiens gerade einmal 18.000 Menschen. Rund 1.000 von ihnen kommen im Schnitt zu den Heimspielen ihrer AS. In Ausnahmefällen, wie der Aufstiegsrunde vor zwei Jahren, können es auch schon einmal 4.000 sein. Wer mit solchen Zuschauerzahlen bis in den Profifußball vorstößt, hat sich von der Laufkundschaft längst unabhängig gemacht. Folgerichtig sind TV-Gelder die wichtigste Einnahmequelle, gefolgt von der Stadion- und Trikotwerbung.
Eine ganz entscheidende Rolle im Finanz- und Zuschauerkonzept spielt der Business Club. Jeder der 154 so genannten Business Seats, die hinter der riesigen Glasfront der Haupttribüne cineastisches Flair verbreiten, trägt 1.000 Euro pro Saison zum Gesamtetat der Ostbelgier bei, der mit einer Million Euro das kleinste Budget aller Profivereine in der Euregio darstellt. Wegen der starken Nachfrage soll die Haupttribüne bald mit 80 weiteren Prunkmulden bestückt werden. Damit würde der Anteil der Edelfans mit Vollpension und Strandkorb auf fast ein Viertel des Gesamtzuschauerschnitts steigen.
Kein Wunder also, dass die Bedürfnisse dieser bedeutenden Zielgruppe besonders gepflegt werden. Dazu zählt mit Sicherheit die traditionelle Austragung der Heimspiele am Samstagabend, wenngleich dieser Termin im Nachbarland weit verbreitet ist. „Der Samstagabend verträgt sich am besten mit der Eupener Mentalität“, glaubt Ralph Lentz. „Nach dem Spiel verweilen die Zuschauer gerne noch einige Zeit, plaudern miteinander, essen und trinken etwas.“ Sicherlich ein maßgeschneidertes Angebot für das gesetztere Publikum. Ob der Termin allerdings jüngeren Fans ebenso schmeckt wie die typischen Bockwürste mit Sauerkraut, die im Stadion verkauft werden, ist zumindest fraglich.
„Nach dem Spiel verweilen die Zuschauer gerne noch einige Zeit, plaudern miteinander, essen und trinken etwas.“
Ralph Lentz über die Eupener Mentalität
Denn wenn andernorts das Partyvolk letzte Hand an sein Outfit legt, um sich kopfüber in die schönste Nacht der Woche zu stürzen, lädt in Eupen das Flutlicht zur Fußballvesper ein. Auch wenn das Nachtleben unter den Türmen der Nikolauskirche nicht sonderlich ausgeprägt ist: Nicht wenige Jugendliche werden sich am Samstagabend lieber in der Disko die Hörner abstoßen, als zum Kehrweg hinaufzupilgern.
Kooperation mit starken Partnern
Foto: Carl Brunn
Der kleine Etat bringt es zwangsläufig mit sich, dass finanzstarke Clubs aus dem In- und Ausland Jahr für Jahr einige Leistungsträger abwerben. Um mit diesem Problem besser fertig zu werden, unterhält der Club vom Rand des Hohen Venns eine enge Kooperation mit dem ruhmreichen Standard Lüttich. „Standard parkt Spieler bei uns, die gerade nicht zum Zuge kommen oder sich erst bei den Profis etablieren müssen“, erläutert Vorstandsmitglied Frank Neumann. „Das Gehalt wird weiter von Standard bezahlt, wir schießen geringfügige Aufwandsentschädigungen zu. Dass wir die Spieler auf hohem Niveau ausbilden und ihnen zudem mehr Spielpraxis geben, steigert ihren Marktwert. Auf diese Weise profitieren beide Seiten davon.“
Eine ähnliche Kooperation könnte sich der großgewachsene ehemalige Torwart, dessen Herrenmodegeschäft die einzige Anlaufstelle für Fanartikel in der Eupener Innenstadt ist, auch mit Alemannia Aachen vorstellen. Dabei hat er vor allem die junge Oberligatruppe im Blick, deren Spieler aufgrund der enorm gestiegenen Qualität kaum Chancen haben, in den Zweitligakader der Schwarz-Gelben aufzurücken. Ein gutes Fundament, auf dem man aufbauen könnte, wäre vorhanden.
„Der Kontakt zur Alemannia ist gut“, bestätigt Ralph Lentz. „Unser Manager Manfred Theissen und Jörg Schmadtke kennen sich persönlich und tauschen sich hin und wieder aus.“ Gut ist nicht gleich sehr gut. So war man in Eupen alles andere als erfreut, als der Turn- und Sportverein aus der Kaiserstadt die Anfrage nach einem Testspiel am Kehrweg einfach ignorierte. Ein solcher Auftritt wäre auch eine nette Geste an die ostbelgischen Fans gewesen, um die auch Standard Lüttich und der 1.FC Köln buhlen.
Auf den Spuren von Prokop & Co.
Das nichtsdestoweniger gute Verhältnis zwischen den beiden Vereinen kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Die Liste der Spieler, die vom Tivoli an den Kehrweg gewechselt sind, ist umfangreich. Gerd Prokop kam 1970. Die Torwartlegende, in der Vereinschronik der Schwarz-Weißen als „Mann mit den Polypenarmen“ gerühmt, hatte wesentlichen Anteil an der sportlichen Glanzzeit der AS. erreichte mit ihr 1974 sogar die Aufstiegsrunde zur ersten Liga. Zwischenzeitlich agierte der Keeper für ein Jahr sogar als Spielertrainer.
„Das war ein echter Kerl, auf und neben dem Platz einer der besten Spieler, die wir von der Alemannia bekommen haben.“
AS-Vorstandsmitglied Frank Neumann schwärmt noch heute von Jupp Zschau
In der Folgezeit fand er viele Nachahmer. So schlüpften auch Dieter Baumanns (1977), Rolf Kucharski (1981), Werner Jahr (1988), Günter Knops (1990), Helmut Rombach (1991) und Udo Niessen (1992), vom Tivoli kommend, ins schwarz-weiße Trikot. Nicht alle hatten Erfolg. Ein Akteur, der wegen seiner Impulsivität auf dem Tivoli sehr beliebt war, hat auch in Eupen einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Rede ist von Jupp Zschau, der 1994 nach Ostblegien kam. „Das war ein echter Kerl, auf und neben dem Platz einer der besten Spieler, die wir von der Alemannia bekommen haben. Zehn Jahre jünger würde ich den Jupp sofort wieder nehmen“, schwärmt Frank Neumann noch heute.
Enttäuscht haben ihn dagegen Erwin Vanderbroeck und Bachirou Salou: „Der Erwin hat geglaubt, er könne hier auf einem Bein mithalten. Natürlich ist bei uns das Niveau niedriger als in der zweiten Bundesliga. Aber wer sich nicht wehrt, wenn er attackiert wird, erlebt schnell sein blaues Wunder. Salou hingegen war einfach nicht mehr fit genug, um 90 Minuten volles Tempo zu gehen.“ Gut eingeschlagen hat dagegen Marc Keller. Mit 15 Toren in der abgelaufenen Spielzeit hat sich der 2003 Zurückgekehrte neben der Torjägerkrone auch den Status eines Führungsspielers erarbeitet.
„Die namhaften Spieler waren stets gesetzt, ein Landesliga- oder A‑Jugendspieler hatte bei Jörg Berger kaum eine Chance.“
AS-Kapitän Marc Keller war in Aachen der Durchbruch verwehrt geblieben
Foto: Carl Brunn
Das Zeugnis von Ralph Lentz fällt entsprechend gut aus: „Marc Keller ist ein talentierter, bodenständiger und eifriger Spieler. Die Alemannia hatte einfach nicht die Geduld, ihm die nötige Zeit zur Entwicklung zu geben.“ Wieso ihm der Durchbruch an der Krefelder Straße verwehrt geblieben ist, analysiert der Mittelstürmer durchaus selbstkritisch: „Objektiv gesehen hat es mir damals noch an der nötigen Klasse gefehlt. Außerdem waren die namhaften Spieler stets gesetzt, ein Landesliga- oder A‑Jugendspieler hatte bei Jörg Berger kaum eine Chance.“ Als die sportliche Führung der Alemannia signalisierte, den auslaufenden Vertrag nicht mehr verlängern zu wollen, wechselte er zurück in die Heimat. Hier fühlt er sich pudelwohl, hier steht er als Kapitän, Torschützenkönig und Lokalmatador im Blickpunkt.
„Allez Eu-pen!“
Die Auftritte des ehemaligen Alemannen Marc Keller sind nicht die einzigen Gründe, die für einen Abstecher ins gerade einmal 17 Kilometer entfernte Eupen sprechen. Hier, in der beschaulichen Atmosphäre des Stadions am Kehrweg, können sich Aachener Fußballjunkies noch ganz entspannt und ohne Konflikte mit dem Spielplan der Alemannia eine Extraportion Fußball gönnen.
Rolf Kinzen aus Aachen macht schon seit Jahren gelegentliche Ausflüge in die Nachbarstadt. Es ist die besondere Mischung aus familiärem Umfeld, nachbarschaftlicher Sympathie und sportlicher Leistung, die den 38-Jährigen anzieht. „Hier kennt man keine Kontrollen, alles ist ganz entspannt und nicht so organisiert. Zwar erinnert die Atmosphäre ein wenig an Rhenania Richterich, geboten wird aber toller Zweitligafußball: schnell, direkt und ohne Zeitschinderei.“ Allerdings ist das langjährige Alemannia-Mitglied eine Ausnahme. Abgesehen von einigen Fußballverrückten aus der Groundhopperszene lassen sich kaum einmal Deutsche am Kehrweg blicken. Mehr Zuspruch gibt es aus dem frankophonen Gebiet zwischen Eupen und Verviers. Doch selbst dieser eigentlich recht große Einzugsbereich ändert nichts daran, dass die aktive Unterstützung für die AS Eupen kaum zweitligareif zu nennen ist.
Im Jahr 2001 haben Eupener Enthusiasten den Fanklub „Pandas“ gegründet. Auslöser war die Streichung des Fanbusses gewesen, der wegen seiner geringen Auslastung von den wenigen aufrechten Mitfahrern irgendwann nicht mehr finanziert werden konnte. „Hier wollten wir etwas tun“, erzählt Elmar Brossel, einer der Mitgründer der „Pandas“. Zunächst wurde auf eigene Faust ein Bus gechartert. Auf einer Auswärtsfahrt nach Waregem nahm dann der Plan zur Gründung des Fanclubs Gestalt an. Inzwischen kommt man auf stolze 84 Mitglieder. Ob das Projekt auch in sportlich magereren Jahren Bestand haben wird, bleibt abzuwarten. „Der Zuspruch hängt nun einmal auch vom Erfolg des Vereins ab“, ist Brossel ehrlich.
Für deutlich mehr Aufregung als die gemäßigten „Pandas“ sorgen gelegentlich die Auftritte einiger Ultras, deren Aufzug und Gesänge auf regelmäßige Tivolibesuche schließen lassen. In raren Momenten, in denen niederländisch singende Flamen megaphonverstärkt mit „Ihr seid Flamen, asoziale Flamen!“ tivolikompatibel zurechtgepöbelt werden, ergibt sich ein erheiternder Stimmungsmix. Und wenn dann auch noch die Mehrheit der Gemäßigten mit dem traditionellen „Allez Eu-pen!“ für einen sprachlichen Dreiklang sorgt, ist endgültig der Beweis erbracht, dass nirgendwo polyglotter supportet wird als in Belgien. So schön kann Europa sein.