Der Kampf um die Macht am Mittelrhein wurde zwischen Aachen und Köln schon immer mit harten Bandagen geführt. Auf Spielfeldern. In Hinterzimmern. An grünen Tischen. Die sportlichen Vergleiche fielen zwiespältig, die sportpolitischen hingegen eindeutig aus. Letztere entschieden die wendigen Klüngelexperten vom Rhein alle für sich. Ein Akteur tat sich dabei besonders hervor: Jakob Zündorf. Als Gaufachwart Mittelrhein verhängte er gegen die Alemannia vor über 80 Jahren die härteste Strafe ihrer Vereinsgeschichte.
Mit Ausnahme einiger weniger Zeilen, die ihm die Jubiläumsschrift zum 100-jährigen Bestehen der Schwarz-Gelben widmet, erinnert heute nur noch wenig an Zündorf. Der als Zäsur empfundene Zweite Weltkrieg und die turbulenten 60er-Jahre, als es die Alemannia im Ringen um einen Platz in der neuen Bundesliga vor allem mit seinem Gesinnungsgenossen Franz Kremer, dem ehemaligen Präsidenten des 1. FC Köln zu tun bekam, haben ihn ins Brachland des Vergessens verdrängt.
Man muss in den Archiven graben, um die Fäden von Zündorfs Geschichte aufzunehmen. Sie führen zurück in den Herbst des Jahres 1938. Damals, als es noch keine Bundesliga, sondern mehrere Gauligen gab, war aus heutiger Sicht jedes Meisterschaftsspiel ein Derby. Vor allem die Kicks gegen Rhenania Würselen oder die zahlreichen Kölner Vereine hatten es für die Alemannia in sich. Sie waren geprägt von emotionsgeladener Rivalität.
Als am 23. Oktober 1938 mit dem VfL Köln 99 der gerade seine Glanzzeit erlebende älteste Fußballverein der Rheinmetropole auf dem Tivoli gastierte, kam es vor den Augen des Gaufachwarts Zündorf zu einem handfesten Eklat. Der Aachener Nationalspieler Reinhold Münzenberg, ein Liebling der Massen, der erst wenige Wochen zuvor sein vierzigstes Länderspiel absolviert hatte, wurde wegen einer Tätlichkeit des Feldes verwiesen. Der Tivoli brodelte.
Zündorf, selbst beim Spiel vor Ort, erhob im Anschluss den Vorwurf, einige zum Teil auch als Ordner eingesetzte Vereinsmitglieder der Alemannia hätten in der Pause das Publikum gegen den Schiedsrichter aufgeputscht und ihn zur Zielscheibe körperlicher Angriffe gemacht. Der Spielbericht der Vereinszeitung „Die Alemannen“ beklagt sich zwar larmoyant über Fehlentscheidungen des Unparteiischen. Von heftigen Zuschauerausschreitungen ist jedoch mit keiner Silbe die Rede.
Harte Strafen
Der Gaufachwart wollte die Angelegenheit nicht einfach auf sich beruhen lassen. Ohne mit der Wimper zu zucken, verhängte er eigenmächtig einen Katalog härtester Strafen, die der Alemannia acht Tage später in Form eines Urteils ins Haus flatterten. Als Ersten traf es die Alemannen-Ikone Reinhold Münzenberg. Der wegen seiner harten Spielweise auch „der Eiserne“ genannte Mittelläufer soll mit den Worten „Jetzt ist mir alles egal, jetzt trete ich alles kaputt!“ vollmundig die Tätlichkeit angekündigt haben, für die er in der 30. Minute vom Platz verwiesen worden war.
„Jetzt ist mir alles egal, jetzt trete ich alles kaputt!“
Der eiserne Ansatz für effizientes Anger Management
Die nächste Ohrfeige musste Karl Moll einstecken. Der Alemannia-Vereinsführer wurde wegen unvorschriftsmäßiger Organisation des Ordnungsdienstes ernstlich verwarnt. Außerdem sollte er zwei Mitglieder denunzieren, die mit Gerüchten über den Schiedsrichter das Publikum aufgehetzt haben sollten. Ihnen drohte der Ausschluss aus dem Reichsbund für Leibesübungen, der Dachorganisation des deutschen Sports. Auch an die Zuschauer war im Urteil gedacht. Das nächste Heimspiel wurde kurzerhand auf des Gegners Platz verlegt, weil die Fans vom Tivoli in einem Maß gegen sportiche Gesetze und Anstand verstoßen hätten, wie dies im Gau Mittelrhein auf einem Fußballplatz noch nicht erlebt worden sei.
Mit einem Bric-à-Brac aus Kurvenklassikern und Bürgerkriegsparolen wie „Lyncht ihn. Wir schlagen Dich tot. Du kommst hier nicht lebend vom Platze!“ sollen vor Wut schäumende Massen den Schiedsrichter während des Spiels zunächst verbal drangsaliert haben. Nach Spielende hätten sie sich dann mit Steinen und anderem „Angry Mob Supply“ so vehement auf ihn gestürzt, dass dieser von der Polizei sicherheitshalber aus dem Stadion eskortiert werden musste.
Old fool, but old school
Jagdszenen, die sich lesen wie der Erlebnisbericht einer Hooliganbande. Konnte es wahr sein? War das tatsächlich ein Spiel der Gauliga Mittelrhein im Jahr 1938? Man stelle sich einmal vor, wie der gestrenge Urgroßpapa, der mit den anderen Trainingskiebitzen mittwochs immer so friedlich Canasta spielt, in seiner besten Zeit einen einwandfreien Platzsturm hinlegt. Old fool, but old school. Die tumben Kloppergemeinschaften der Oberliga Ost wären vor Neid erblasst. Doch bleiben Zweifel, ob sich die Handgemenge in der geschilderten Form wirklich so oder anders zugetragen haben.
Foto: Sammlung Münzenberg
Erstens hätte der fidele Urgroßpapa diese Räuberpistole längst zu den Klängen zünftiger Marschmusik und mit vollem Einsatz der auf dem Kaffeetisch versammelten Porzellanstücke so lebensecht nachgestellt wie seine von Pulverdampf umwölkten Kriegserlebnisse. Zweitens enthält der Bericht der Vereinszeitung, die mit den eigenen Zuschauern durchaus hart ins Gericht zu gehen verstand, merkwürdigerweise keinerlei Hinweise auf Randale.
Drittens war Jakob Zündorf, der geistige Urheber des Urteils, dem sich die Schilderung verdankt, ein einflussreiches Mitglied des damaligen Gegners VfL Köln 99, das als Schlachtenbummler auf der Tribüne gesessen hatte. Ein alles andere als neutraler Fan, der sich zum Ankläger und Richter bestellt hatte. Diese Dreifaltigkeit animierte ihn dazu, sich gottgleich zu geben. Als einen überaus zornigen Gott, der unkontrolliert mit Blitz und Donner herumhantierte.
An der Krefelder Straße hatte man die von Adrenalinrausch und emotionaler Anteilnahme entstellten Schilderungen ebenso satt wie die Pauschalurteile über den Verein und seine Zuschauer. Die Zeit war reif für einen Gegenschlag. Eine Berufungsschrift bereits in Vorbereitung. Hierzu hatten nicht nur der schrille Ton und die harten Strafen des Urteils Anlass gegeben. Man fühlte sich auch von der Westdeutschen Fußballwoche brüskiert, die das Urteil noch vor dem Gaufachblatt veröffentlicht hatte. Der verantwortliche Chefredakteur dieser Zeitung hieß … Jakob Zündorf.
Der Vierfaltige
Die anschließende Pressekampagne der „Fuwo“ brachte das Fass aus Aachener Sicht endgültig zum Überlaufen. Zündorf, der längst den Bodenkontakt verloren hatte, war offenbar gewillt, sich wie in seinen anderen Rollen nun auch als Journalist einzumischen. Aus dem Dreifaltigen wurde der Vierfaltige. Und als seine Postille fühlte sich die „Fuwo“ ganz offensichtlich nicht mehr an die Regeln des objektiven Journalismus gebunden. Statt die Berichterstattung in neutrale Hände zu legen, griff der tief in die Angelegenheit verwickelte Chef lieber selber in die Tasten, wenn es galt, den Leser über die neuesten Entwicklungen im fraglichen Fall aufzuklären. Schon bald sollte er Neues zu berichten haben.
Am 7. November reichte die Alemannia beim Reichsfachamt für Fußball in Berlin, das den DFB im Zuge der Gleichschaltung des Sports abgelöst hatte, ihre Berufung ein. Dass sich die daran geknüpften Hoffnungen nicht erfüllten, dürfte auf mehrere Gründe zurückzuführen sein. Einer davon ist die fragwürdige Qualität der Berufungsschrift. Sie vermittelte den Eindruck, als sei sie in einem vor Wut und Zigarrenqualm gleichermaßen vernebelten Hinterzimmer des Vereinsheims in die Welt gesetzt worden.
Statt sich auf eine sachliche Widerlegung der Vorwürfe zu konzentrieren, hatte man sich von den eigenen Emotionen fortreißen lassen und sämtliche Verantwortung für die Vorkommnisse auf und neben dem Platz auf den Unparteiischen abgewälzt. Garniert wurden diese Anwürfe mit der ehrabschneidenden Behauptung, Schiedsrichter Forst habe sich beim Gaufachwart wegen zuvor schlechter Leistungen in ein günstiges Licht setzen wollen. Ein Angriff auf dessen Integrität, der zu einem Bumerang wurde und der Alemannia den Vorwurf fehlender Sportskameradschaft eintrug.
Mentor und Ziehsohn
Doch selbst mit der besten Berufungsschrift hätte die Alemannia wohl kaum Aussicht auf Erfolg gehabt. Denn Zündorf war mit Felix Linnemann, dem Leiter des Reichsfachamts, recht gut bekannt. Als der Kölner nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten seinen Posten beim Westdeutschen Spielverband unter anderem wegen regimekritischer Äußerungen eingebüßt hatte, wurde er vom damaligen DFB-Präsidenten noch im selben Jahr als Fachamtsleiter des Mittelrheingaus ins Funktionärswesen des deutschen Fußballs zurückgeholt.
Es war nicht zu erwarten, dass Linnemann als mächtigster Fußballfunktionär des Reiches seinem Ziehsohn in der bewegten Auseinandersetzung mit dem Aachener Turn- und Sportverein in den Rücken fallen würde. Tat er auch nicht. Doch mit einem abschlägigen Bescheid in Richtung Alemannia war es Linnemann längst nicht getan. Er wollte mehr. Ein Exempel.
„Die Strafe ist keineswegs zu schwer, eher als zu milde anzusehen.“
Fußballmafia Reichsfachamt
In zweiter Instanz bestätigte er die von Zündorf verhängten Strafen. Mit einer Ausnahme: Die Platzsperre wurde von einem auf drei Spiele erhöht, weil Aachens Berufungsschrift nicht, wie im ursprünglichen Urteil gefordert, die beiden Alemannen ans Messer geliefert hatte, die Urheber einer wie auch immer gearteten Jagd auf den Schiedsrichter gewesen sein sollten. „Wenn auch das Ersturteil zweckmäßig völlig Unbeteiligten hätte überlassen werden sollen, so ist die Strafe keineswegs zu schwer, eher als zu milde anzusehen“, hieß es in Linnemanns Urteilsbegründung.
Haltung in der Krise
Das Urteil wurde also nicht wie gewünscht abgeschwächt, sondern sogar noch verschärft. Zündorf ließ die Sektkorken knallen. Plötzlich durfte er sich sogar noch der Mildtätigkeit rühmen. „Nun“, höhnte er, „wer sind denn jetzt für die Alemannen-Anhänger die bösen Menschen, die den Aachenern nicht wohlwollen? Ich doch wohl nicht mehr! Und: Wer den Schaden hat … !“
„Wer den Schaden hat … !“
Große Sportsleute gewinnen mit Anstand, Jakob Zündorf nicht
Während sich der große Triumphator aus der Domstadt vomRhein mit Teilen der Aachener Presse noch wochenlange Scharmützel lieferte, verzichtete der schwer getroffene Verein aus der Kaiserstadt auf weitere Schritte. Den Weg eines Gnadengesuchs beim Reichssportführer, der die Strafe möglicherweise auf das ursprüngliche Maß reduziert hätte, wollten die Verantwortlichen auf keinen Fall beschreiten. Er hätte einen Kotau vor Zündorf und Forst erfordert, den auszuführen man nicht gewillt war. Außerdem sollte kein Urteil erfleht werden, gegen das man zuvor protestiert hatte.
Lieber ertrug man mit Fassung die Konsequenzen. Und die waren schwer genug. Die mehrmonatige Sperre Münzenbergs war für die im Abstiegskampf steckende Mannschaft eine erhebliche Bürde, die sich nicht so ohne Weiteres wegstecken ließ. Die sportliche Talfahrt ging weiter. Am Ende musste Alemannia Aachen als Tabellenletzter aus der Gauliga absteigen. Einzig durch die Aufteilung der Liga in zwei Gruppen à 13 Mannschaften nach Kriegsausbruch blieb ihr der Gang ins Unterhaus erspart.
Die Haltung, die die Verantwortlichen in dieser Krise zeigten, hebt sich wohltuend vom vorauseilenden Gehorsam eines Jahrzehnte später agierenden Vorstands ab, der nach dem künstlichen Zusammenbruch des FCN-Trainers Wolf kurzerhand vor allen Stehtribünen des Tivoli Netze aufhängen ließ. Am schuldigen Respekt ändert auch die missglückte Berufungsschrift nichts. Umso unverständlicher ist der nach dem Krieg eingeschlagene Schmusekurs.
Anlässlich des 50. Vereinsjubiläums der Alemannia erhielt Zündorf, mittlerweile Hauptschriftleiter des Rheinbezirks, gemeinsam mit einer Reihe weiterer Verbandsfunktionäre aus dem Westen die goldene Ehrennadel des Vereins. Die Frage liegt auf der Hand, ob die Alemannia sportpolitisch einen neuen Weg einschlagen wollte. Wie Jakob Zündorf von der Sache dachte, ist nicht überliefert. Möglicherweise war sie ihm selbst nicht ganz geheuer, denn er ließ seine Abwesenheit vom Festakt mit Krankheit entschuldigen.
Barocker Machtinstinkt
Falls sich die Alemannia tatsächlich dem Verband in irgendeiner Weise andienen wollte, hat ihr diese Strategie nicht viel genutzt. Denn nur eine Dekade später, als die Gründung der Bundesliga vorbereitet wurde, trat ein neuer Akteur auf den Plan: Franz Kremer. In einem den Erzfeinden des TSV gewidmeten Panoptikum würde der inzwischen verstorbene Präsident des 1. FC Köln gewiss den Ehrenplatz erhalten.
Die Alemannia bekam den barocken Machtinstinkt des gerissenen Funktionärs zu spüren, als er sie im entscheidenden Wahlgang mit Unterstützung zahlreicher Hilfstruppen aus dem Gründungszirkel der Bundesliga herausdrängte. Ein fein eingefädeltes Komplott, das ihm den unversöhnlichen Zorn und einen bleibenden Platz im Gedächtnis der Alemannenanhänger eintrug.
Er lieferte ihnen frei Haus das Garn, aus dem sich ein leidlicher Gründungsmythos stricken ließ, wie ihn die Fanszene eines Traditionsvereins zur Abgrenzung von anderen Fanszenen braucht. Mit seiner Hilfe kultivierten die Aachener das Selbstbild vom aufrechten Underdog, der sich im Kampf um sein Recht immer wieder dem Recht des Stärkeren beugen musste.
Jakob Zündorf hätte diesem Bild viele weitere Farbtupfer hinzufügen können. Doch die fühlbare Distanz zur Vorkriegszeit hat die Erinnerung an Alemannias größtes Fiasko abseits des Platzes allmählich verblassen lassen. Ein Strafgericht, eine Pressekampagne und mittelfristig der zumindest sportliche Abstieg: Zündorfs Bilanz ist eindrucksvoll. Nicht einmal Franz Kremer kann eine bessere vorweisen.