Er hat Aufstiege gefeiert und Abstiege verhindert, hat in Pokalendspielen gestanden und wurde zeitweilig als Kultfigur bejubelt. Dennoch ist Dirk Lehmann dem Gros der Fußballfans in Deutschland unbekannt. Weite Teile seiner bewegten Laufbahn verbrachte der Aachener jenseits der Grenzen seines Heimatlandes.
Kilometer um Kilometer rollt die Autobahn unter seinem Auto hindurch. Noch eine gute Stunde, dann wird Dirk Lehmann zu Hause sein – in Aachen, auf dem Tivoli. Dort wird er auf der Haupttribüne Platz nehmen, um sich ein Zweitligaspiel anzuschauen: Jahn Regensburg ist zu Gast bei der Alemannia. Sein aktueller Arbeitgeber bei seinem Heimatverein. Seit Tagen hat sich der Mittelstürmer auf diese Partie gefreut. Gestern hat er erfahren, dass sie ohne ihn stattfinden wird. Statt des versprochenen Platzes in der Startelf steht er nicht einmal im Kader. Im Laufe seiner Zeit beim Jahn hat Lehmann schon einige Tiefschläge hinnehmen müssen. Guten Trainingsleistungen und reichlich Testspieltoren zum Trotz hat er im Ligaalltag häufig keine Berücksichtigung gefunden. Bislang hat sich der zum Joker Degradierte dennoch nicht hängen lassen. Doch dieses gebrochene Versprechen bringt das Fass bei ihm zum Überlaufen.
Mit einer der herbsten Enttäuschungen seiner Karriere im Gepäck setzt er sich kurz entschlossen in den Wagen, um das Spiel zumindest vor Ort anschauen zu können. Unterwegs bleibt ihm viel Zeit zum Nachdenken. Und während ihn jeder gefahrene Kilometer der Heimat ein Stück näher bringt, wandern seine Gedanken zurück zu den Tagen, als ihm das Leben als Fußballprofi bei weitem mehr Spaß gemacht hat.
Damals, in England und Schottland, wo er fünf Jahre lang beim FC Fulham, bei Hibernian Edinburgh, bei Brighton Hove and Albion und beim FC Motherwell gespielt hat. Wo er dank seiner kompromisslosen Art, seiner Kopfballstärke und seines steten Einsatzwillens zum Publikumsliebling wurde. Wo er wie die teutonische Faust aufs britische Fußballauge passte. Und wo die Verehrung durch die Fans wegen einer absurden Verwechslungsgeschichte zum Teil sehr seltsame Formen annahm.
Liebling der Massen
1998 war das. Kevin Keegan hatte den Kraut gerade über den Ärmelkanal zum FC Fulham gelotst. Ein Anhänger des damaligen Drittligisten meinte, eine Ähnlichkeit zwischen dem Neuzugang und dem Pornodarsteller Dirk Diggler – Hauptfigur des Films „Boogie Nights“, die auf dem tatsächlichen Pornostar John Holmes basiert – ausgemacht zu haben. Die Gemeinsamkeiten sind schnell aufgezählt: Oberlippenbart, blonde Strähnchen, reichlich Ohrringe und der Vorname.
Trotz der nicht gerade erdrückenden Beweislage wussten bald alle rund um Craven Cottage: Unser neuer Stürmer dreht nebenbei Erwachsenenspielfilme. Beim ersten Heimspiel der Saison gegen Manchester City hing ein riesiges Transparent in der Fankurve: „Super Dirk Pornstar“. Fulham gewann die Partie mit 3:0. Gleich zwei Tore steuerte der vermeintliche Unterleibsartist bei. Die Fans waren aus dem Häuschen und Lehmann der Liebling der Massen.
„Es ist nicht schön, wenn es dauernd heißt: ‚Hey, stimmt das mit Deinem Mann?’.“
Im Fanshop war sein Trikot mit der Nummer Neun der Verkaufsschlager. Sein Aussehen wurde zur Blaupause für etliche Anhänger. Zig Zuschauer standen mit angeklebten Schnäuzern und getapten Ohrläppchen auf den Rängen. Auf dem Höhepunkt der Pornomania wurden sogar Schulkinder im Diggler-Outfit gesichtet. Im Privatleben war an Ruhe nicht mehr zu denken. Ständig sprach man ihn und seine damalige Partnerin auf der Straße an. „Vor allem ihr hat das schwer zu schaffen gemacht. Es ist halt nicht schön, wenn es dauernd heißt: ‚Hey, stimmt das mit Deinem Mann?’“, zeigt der derart bizarr Verehrte die Schattenseiten des Hypes auf. Strähnchen und Oberlippenbart haben schon vor einigen Jahren das Zeitliche gesegnet. Inzwischen kann er herzhaft über diese Episode lachen.
Der Heimsieg gegen Manchester City hatte nicht nur einen kuriosen Kult losgetreten. Er war auch der Startschuss für eine grandiose Saison. Die Cottagers sorgten in beiden Pokalwettbewerben für Furore. Gleich mehrere Erstligisten schaltete das Team aus, ehe es im Ligapokal beim FC Liverpool und im FA-Cup bei Manchester United jeweils denkbar knapp scheiterte. Bisweilen lassen sich Mannschaften durch solch außerordentliche Fußballfeste vom Tagesgeschäft ablenken. Fulham hingegen rettete die Begeisterung hinüber in die Liga. Am Ende der Spielzeit stand man unangefochten an der Tabellenspitze und sicherte sich somit den Aufstieg in die First Division. Der Jubel war groß.
75 Kilometer in die Bundesliga
Der Deutsche im Team hatte einen weiteren Grund zu feiern. Sein Heimatverein Alemannia Aachen hatte ebenfalls die Liga nach oben gewechselt. Nach dem Zweitligaabstieg 1990 waren neun Anläufe für die Rückkehr in den bezahlten Fußball nötig gewesen. Aus der Jugend der Kaiserstädter stammend, hatte Dirk Lehmann in den ersten beiden erfolglosen Oberligajahren selbst das Trikot mit „A“ und Adler getragen. Die Aussicht auf einen Sprung ins Profigeschäft führte zu seinem Abschied von der Krefelder Straße. 75 Autobahnkilometer entfernt bot der 1. FC Köln dem aufstrebenden Stürmer die Möglichkeit, sich im Oberligateam der Geißböcke für die Bundesliga zu empfehlen. Die Alemannia legte ihrem Eigengewächs keine Steine in den Weg.
Für die Amateure vorgesehen, trainierte der Neuzugang früh mit der ersten Mannschaft des FC. Seine Ausbildung zum Kommunikationselektroniker wollte er indes nicht abbrechen. Die Folge war ein voll gepackter Terminplan: vormittags Berufsschule, nachmittags Training. Und wenn die Mitspieler Feierabend machten, hing Dirk Lehmann eine Extraschicht dran. Der Aufwand lohnte sich.
Recht bald erhielt der Halbtagsfußballer die Gelegenheit, Profiluft zu schnuppern. Nach einer Einwechslung im DFB-Pokal spielte er ausgerechnet im Europapokal erstmalig von Beginn an. Celtic Glasgow war zu Gast im Müngersdorfer Stadion und der Mittelstürmer machte beim 2:0 Sieg auf der ungewohnten rechten Außenbahn eine gute Partie. Mit seinem ersten Bundesligator gegen Saarbrücken am darauf folgenden Wochenende schien der Durchbruch geschafft.
Dirk Lehmann über den Celtic Park in Glasgow
„Diese wahnsinnig lauten Fans […] trieben ihr Team nach vorne und sangen den Ball quasi ins Tor. Es war beängstigend und gleichzeitig faszinierend.“
Doch die Konkurrenz war groß. Mit Spielern wie Stefan Kohn, Ralf Sturm und Frank Ordenewitz konnte Trainer Jörg Berger in der Offensive aus den Vollen schöpfen. Ein Platz in der Startelf war dem Jungprofi keineswegs gewiss. So erlebte er die hitzige Atmosphäre beim Rückspiel in Glasgow nur von der Bank aus. „Diese wahnsinnig lauten Fans machten uns sofort klar, dass trotz unseres Hinspielsieges noch gar nichts entschieden war. Sie trieben ihr Team nach vorne und sangen den Ball quasi ins Tor. Es war beängstigend und gleichzeitig faszinierend.“ Köln verlor das Spiel mit 0:3 und schied aus. Dirk Lehmann wurde nicht eingewechselt. Vom Rasen aus durfte er das Erlebnis Celtic Park erst Jahre später genießen.
Eine starke Gemeinschaft
FC Fulham 1999: Präsident Mohamed Al-Fayed hatte tief in die Tasche gegriffen. Möglichst schnell sollte es ins gelobte Land Premier League gehen. Kevin Keegan hatte den Verein unterdessen verlassen, war Nationalcoach Englands geworden. Unter dem Neuen, Spielertrainer Karl-Heinz Riedle, sah Lehmann seine Chancen auf Einsätze schwinden. Wechselwillig, ablösefrei und eine gute Vorsaison in der Bewerbungsmappe: Innerhalb kürzester Zeit lagen ihm 28 Angebote vor. Seine Wahl fiel auf Hibernian Edinburgh.
Beim schottischen Erstligaaufsteiger schlug der Deutsche ein wie die Bombe. Gleich in den ersten beiden Spielen erzielte er drei Tore und machte sein Team fast im Alleingang zum überraschenden Tabellenführer. Das aus England nach Norden geschwappte Gerücht von seiner angeblichen Nebentätigkeit als Filmhengst tat ein Übriges. Wieder klebten sich die Fans Schnäuzer an und Ohrläppchen ab, feierten ihren „Supertape“ mit speziell auf ihn getexteten Liedern.
Und der wurde allen Erwartungen gerecht, war Leistungsträger einer Mannschaft, die sich auch neben dem Platz als solche präsentierte. Nach dem Training ging man kollektiv essen. Es gab gemeinsame Kinobesuche und Ausflüge. Von Zeit zu Zeit ließen es die Jungs sogar in Edinburghs Pubs krachen. Trainer Alex McLeish bestärkte sie in diesen Aktivitäten. In Deutschland sicherlich undenkbare Zustände.
„Wenn Du in der Freizeit miteinander Spaß hast, hältst Du auch im Spiel zusammen.“
„Bei all meinen Clubs auf der Insel habe ich einen ähnlich lockeren Umgang erlebt.“ Dirk Lehmann sieht diesen Umstand in der britischen Fußballmentalität begründet. „Man legt einfach viel Wert auf Kameradschaft und Teamgeist. Wenn Du in der Freizeit miteinander Spaß hast, hältst Du auch im Spiel zusammen.“
Zu was eine intakte Mannschaft in der Lage ist, erfuhr er vor allem in seinem zweiten Jahr bei den Hibs. Lange hielten die Underdogs mit den Großen des Landes mit. Erst auf der Zielgeraden konnten sich Celtic und die Rangers entscheidend absetzen. Hibernian qualifizierte sich mit dem dritten Platz immerhin erstmalig seit 20 Jahren für einen europäischen Wettbewerb. Und auch wenn das Pokalendspiel mit 0:3 gegen Celtic Glasgow deutlich verloren ging, bildete die Partie im ausverkauften Hampden Park den würdigen Abschluss einer erfolgreichen Saison.
Unbezahlbare Heimkehr
Rückblende: Müngersdorf, Frühjahr 1993. Die ausklingende Spielzeit 92/93 verlief frustrierend für Dirk Lehmann. Nur sporadisch erhielt er Einsätze in der Bundesliga. Ein Trainerwechsel in der Sommerpause brachte lediglich geringfügige Verbesserung. Denn auch der neue Übungsleiter Morten Olsen setzte meist auf die Konkurrenz, die mit Neuzugang Toni Polster sogar noch gewachsen war. Doch der Zwangsreservist, nach Abschluss der Ausbildung inzwischen voll auf Fußball konzentriert, ließ sich nicht entmutigen und arbeitete hart.
In der Rückrunde erhielt er eine überraschende Offerte. Erik Gerets hatte in ihm seinen Wunschspieler ausgemacht. So trat der Coach des belgischen Erstligisten Lierse SK nach mehrfacher Beobachtung an den kopfballstarken Stürmer heran. Dieser zögerte keinen Augenblick, sein Glück im Ausland zu versuchen.
Nicht weit entfernt vom Dreiländereck und in Schwarz-Gelb gekleidet, fühlte sich der Aachener fast wie zu Hause. Innerhalb von zwei Jahren machte er sich im Nachbarland einen Namen und hatte nach dem Ablauf seines Vertrages nahezu freie Vereinswahl. Die beste Perspektive sah er beim RWD Molenbeek. Der Brüsseler Vorortclub, belgischer Meister von 1975, erlebte unter René Vandereycken gerade eine Renaissance. Dank eines solventen Geldgebers erhoffte man sich für die Zukunft große Dinge.
Stattdessen kämpfte Molenbeek von Beginn an gegen den Abstieg. Erst am letzten Spieltag sicherte Dirk Lehmann mit seinem Tor zum späten 2:2 gegen KRC Harelbeke den Klassenerhalt. In der darauf folgenden Spielzeit kam es sogar noch schlimmer. Der Mäzen zog sich zurück, der Verein stand vor dem Aus. Spielerverkäufe sollten die leeren Kassen füllen.
Der Retter aus dem Vorjahr wurde nach dem vierten Spieltag der Saison 97/98 zu Energie Cottbus transferiert. Beim Zweitligisten kam er vom Regen in die Traufe. Hartes Training mit schier endlosen Waldläufen war an der Tagesordnung. Darüber hinaus stellte Trainer Ede Geyer den Stürmer nahezu durchgehend in der Defensive auf. Der fühlte sich verkannt und versuchte, seinen Abschied aus der Lausitz zu forcieren.
In einem Anflug von Heimweh kontaktierte er die Alemannia. Doch die Rückkehr an den Tivoli scheiterte an einer für Aachen nicht finanzierbaren Ablöseforderung. Erneut drohte ein Karriereknick. Und wieder kam ein unverhofftes Angebot zur richtigen Zeit. Bei einem Testspiel waren englische Scouts auf den vermeintlichen Verteidiger mit Torjägerqualitäten aufmerksam geworden. Der FC Fulham bekundete Interesse und überwies die geforderten 100.000 DM.
Perfekter Sündenbock
Mit dem Wechsel auf die Insel begann die schönste Phase seiner Karriere, wie Dirk Lehmann noch heute konstatiert. Ein sportlich leider unerfreuliches Ende fanden seine britischen Jahre im Sommer 2003. Zwei Spielzeiten zuvor von Edinburgh über Brighton zum FC Motherwell gewechselt, hatte er trotz einiger wichtiger Tore einen Abstieg nicht verhindern können. Aufsteiger Falkirk konnte aber kein erstligataugliches Stadion vorweisen und so wurde der Ligatausch vier Wochen nach Saisonende am grünen Tisch revidiert. Bei früherem Wissen um den Erhalt der Erstklassigkeit wäre der Deutsche sicherlich in Schottland geblieben.
Zum Zeitpunkt der Bekanntgabe aber war er schon auf dem Weg zur nächsten Station. Pierre Littbarski, Mitspieler aus alten Kölner Zeiten und inzwischen Trainer des japanischen Zweitligisten FC Yokohama, hatte auf der Suche nach einem Mittelstürmer erfolgreich beim Ex-Kollegen angeklopft.
Dieser erlebte im Vergleich zu den vorherigen Jahren ein kulturelles Kontrastprogramm. Er genoss die Anonymität der fernöstlichen Großstadt. Niemand sprach ihn auf der Straße an. Autogrammwünsche wurden, wenn überhaupt, höflich distanziert geäußert. Auch in der Mannschaft herrschte ein anderer Geist als auf der Insel. „Die Jungs waren alle nett, aber den meisten fehlte die letzte Entschlossenheit. Verlieren war nicht schlimm, solange man eine einigermaßen ansprechende Leistung gezeigt hatte.“ Beim Gedanken an diese lasche Einstellung schüttelt Dirk Lehmann immer noch verständnislos den Kopf. Jahrelang hatte er erlebt, was Einsatz und Kampfeswille in einem Spiel bewirken können.
Die sportliche Leitung schien den Schlendrian im Team anfänglich zu tolerieren. Nach einem 1:7 gegen den Tabellenführer aus Niigata drehte sich der Wind jedoch. Von Vorstandsseite offenbar unter Druck geraten, zog Pierre Littbarski die Zügel an. Die Zeit des Duzens war vorbei, das Training wurde härter und sein Landsmann, zu Beginn noch Stammspieler, fand sich bei vielen Spielen auf der Bank wieder.
Als teurer Neuzugang schien er den perfekten Sündenbock abzugeben. Am Ende der Halbserie hatte er neun Spiele von Beginn an gemacht. Zehn wären nötig gewesen, um den Vertrag automatisch zu verlängern. Die mündlich zugesagte anderthalbjährige Laufzeit war plötzlich gegenstandslos. Sein Haus in Schottland verkauft, alles für das Engagement in Yokohama zurückgelassen und dann ausgebootet: Dirk Lehmann stand auf einmal völlig ohne Perspektive da.
Enttäuscht ging der Stürmer zurück in die Heimat, wo er sich auf der Suche nach einer neuen Herausforderung dem Zweitliganeuling Jahn Regensburg anschloss. Was folgte, waren weitere harte Wochen und Monate, die er zumeist auf der Bank oder gar auf der Tribüne verbrachte. Mit der verbauten Tivoli-Heimkehr Ende März 2004 reißt ihm endgültig der Geduldsfaden. Beim Besteigen seines Autos, um auf eigene Faust nach Aachen zu fahren, zieht er innerlich einen Schlussstrich unter das Thema Regensburg. Mit Jahns Abstieg wenige Wochen später wird die Trennung Fakt.
Endlich zu Hause
Vor einem weiteren Vereinswechsel möchte Dirk Lehmann erst einmal Grundsätzliches überdenken. Am Ende seiner Überlegungen sieht der Weitgereiste die Zeit gekommen, sesshaft zu werden. Lukrative Angebote aus Zypern und England lehnt er darum dankend ab. Seine sportliche Zukunft wird fürs Erste in der Verbandsliga stattfinden. Borussia Freialdenhoven erhält den Vorzug.
Zeitgleich mit seinem Engagement in dem beschaulichen Örtchen nimmt Lehmann noch einmal eine Berufsausbildung zum Industriekaufmann auf, besucht zudem diverse Trainerlehrgänge. Ganz in der Nähe seines neuen Stadions lässt er sich auch nieder – gerade einmal eine halbe Stunde von Aachen und dem Tivoli entfernt. Die Odyssee ist beendet. Dirk Lehmann ist endlich zu Hause angekommen.