Ein nie um eine flotte Ansage verlegenes Mundwerk. Eher schroffe Kante denn sanfte Hand. Immer mittenmang oder besser: vorne weg. Sie war authentisch bis zur Schmerzgrenze und manchmal darüber hinaus. Sie war eine Ausnahmeerscheinung im männlichkeitsprotzigen Kosmos heranwachsender Fußballfans der 80er Jahre. Sie hatte Standing und genoss Respekt. Sogar bei den raubauzigeren Gemütern. Angelika Reuters war die Blaupause eines Riot Grrrls. Ein Naturereignis, Allerorten bekannt unter ihrem Spitznamen Stupsi. Oder sollte man besser sagen: Kampfname?
Aus Reuters ist inzwischen Jahn geworden. Aus dem Girl eine 57-jährige Frau und Mutter. Nicht verloschen ist jedoch ihre kategorische Treue zur Alemannia. Nach wie vor versucht sie, jedes Spiel der Kartoffelkäfer zu sehen. Ob am heimischen Tivoli oder auswärts. In der Regel tut sie das im Kreise der vor sieben Jahren wiederbelebten Black Eagles. „Dort, wo all das Elend seinen Anfang genommen hat“, wie sie grinsend aufklärt.

Das war im Sommer 1979. Bis dahin war Klein-Angelika an der Hand ihres Papas öfters zum Mönchengladbacher Bökelberg gepilgert. Ihr fußballbegeisterter Vater schwärmte nun mal für die Fohlen. Was soll man machen? Bis ein Bekannter der Familie eine bessere Idee hatte. Er bot an, sie stattdessen zum Aachener Tivoli mitzunehmen. Sie sagte zu. Premiere war der 25. August 1979. Pokalspiel gegen Erstligist Werder Bremen. Sitzplatz.
Doch Angelika hatte keinen Blick für das Rasengeschehen. „Ich habe eigentlich nur zum Würselener Wall geschaut. Dieses Tamtam, diese Gesänge. Das hat mich völlig in den Bann gezogen. Das war viel intensiver und wilder als in Gladbach. Ich war schon damals als knapp 14-Jährige nicht gerade der Typ Heimchen in der Stube. Folglich packte mich das. Mir war sofort klar: Da muss ich mitmischen.“ Aber wie sollte sie das anstellen?
Der Zufall hielt ihr den Steigbügel. Auf dem Rückweg vom Werder-Spiel fiel ihr an einer Haustür in unmittelbarer Nachbarschaft zur elterlichen Wohnung ein handgemachtes Schild auf: ‚Alemannia Aachen Fanclub. Supporters Club Black Yellow‘ war darauf zu lesen. Inklusive des Namens Norbert Metzen sowie einer Telefonnummer. Dass es sich dabei um die führende Figur der alemannischen Rabaukenszene handelte, ahnte sie nicht. Es hätte sie wohl auch nicht abgeschreckt.
Zuhause angekommen, wählte sie kurzentschlossen besagte Nummer. Aus diesem ersten vorsichtigen Kontakt entwickelten sich Freundschaften. Zwei der Jungs schleppte sie ins Haus Sevenig nach Mariadorf. Wo ihnen andere junge Alemannia-Fans begegneten. Rasch bildete sich eine Gruppe, aus der sich noch im gleichen Jahr der Fanclub Black Eagles gründete.

Der Rest war eine Jugend in schwarz-gelber Maßlosigkeit. Stupsi blieb stets mittendrin. Sie ließ so gut wie nichts aus und schon gar nichts anbrennen. Sie verkroch sich nicht, wenn es auf fremdem Terrain ungemütlich wurde. Sie marschierte vorweg, wenn man am Tivoli in der Halbzeit den Kontakt zu Gästefans suchte. Sie kletterte bei Heimspielen über den Zaun, um im Mittelkreis das damals obligatorische Betritual zu vollziehen. Würde sie sich im Rückblick als Hooligan bezeichnen?
Sonst selten um eine Antwort verlegen, lässt sie sich Zeit. „Ich war bestimmt kein Kind von Traurigkeit. Eine große Klappe hatte ich sowieso. Und weggelaufen bin ich auch nicht. Aber ein Hooligan? Nein. Wir sind Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg gegangen. Wir haben sie manchmal sogar gesucht. Doch eigentlich blieb es bei harmlosen Rangeleien und Verbalscharmützeln. Ich kann allerdings verstehen, wenn mir Außenstehende dieses Etikett umhängen wollten.“ Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass die Clique nicht gerade zum Kaffeekränzchen einlud, wenn sie unterwegs war. Nicht immer war es nur harmlose schwarz-gelbe Folklore, was man zur Aufführung brachte.
Das Anderssein, das Ungebremste, das Gefühl des Abenteuers wären das gewesen, was sie gereizt hätte, meint Angelika Jahn im Rückblick. „Weil man nie genau wusste, was passieren würde“, erklärt sie. Während sie in der Schule die brave Angelika gewesen wäre, hätte sie beim Fußball die wilde Stupsi sein können. Welche Rolle ihr besser gefiel, ist unschwer zu erraten. Angst hätte sie jedenfalls nie gehabt. „Ich fühlte mich immer von den Jungs gut beschützt. Die hatten stets ein Auge auf mich.“ Sogar ein Platz in der Alemannias Fan-Historie dürfte ihr sicher sein. Sie gehörte 1989 zu den Initiatoren, der bis heute bestehenden engen Freundschaft zu den niederländischen Nachbarn aus Kerkrade.
Stupsis Flashback
„Im August 1984 sind wir mit der gesamten Kapelle zum Auswärtsspiel nach Berlin bei Blau-Weiß gefahren. Wir mussten also auf dem Transitweg durch die damalige DDR. An der Grenze wurden wir von der Volkspolizei inspiziert. Wir mussten einen Plan vorzeigen, auf dem exakt verzeichnet war, wo welche Person saß. Einer der VoPos beschwerte sich, dass die Notizen kein Schwein lesen könne. Norbert Metzen entschuldigte sich mit den Worten, dass er ja nicht hätte wissen können, dass an der Grenze Schweine kontrollieren würden. Der Ordnungshüter fand das nicht ganz so lustig und blaffte Norbert an: ‚Du bist wohl aus der Muppetshow.‘ Und Metzen, nicht mundfaul, keilte sofort zurück: ‚Die DDR guckt also Westfernsehen. Da kann sie sich mal in Farbe sehen.“ Noch besser wurde es, als die Polizisten die zwei Taubstumme kontrollieren wollten, die öfters mit uns fuhren. Die reagierten einfach nicht auf die VoPos. Wie denn auch? Doch die machten einfach weiter. Uns als die Frage kam, was die Beiden denn beruflich machen würden, antworte Metzen: ‚Die arbeiten bei der Telefonauskunft.‘ Wir anderen haben vor Lachen auf dem Boden gelegen. Aber eigentlich war das nicht so witzig. Die VoPos fühlten sich sichtlich auf den Arm genommen. Und am Ende saßen die am längeren Hebel. Die hätten uns einfach erstmal dabehalten und dann wieder zurückschicken können. Doch sie begnügten sich damit, sich mit der Überprüfung der Ausweise besonders viel Zeit zu lassen.“
Bedingungslose Freundschaft sei auch das gewesen, was sie in der bisher schwersten Phase ihres Lebens erfahren hätte. Ostern 2015 verunglückte ihr damals 16-Jähriger Sohn schwer. „Die Leute aus der Alemannia-Szene waren permanent für mich da. Sie kamen sogar während der Reha-Phase täglich nach Münster, um uns zu unterstützen“, erinnert sie sich. Neben den Aachenern seien auch Kerkrader, Eupener und sogar Bonner zur Stelle gewesen, wenn man sie gebraucht hätte.
„Insgesamt war es eine geile Zeit“, blickt Angelika zurück. „Aber irgendwann verschieben sich halt die Prioritäten.“ Mit etwa 30 Jahren begann sie, auf die Bremse zu treten. Doch die Leidenschaft sei geblieben. Nur lebe sie diese mittlerweile zivilisierter aus. „Auch wenn man die eine oder andere verbale Entgleisung immer noch nicht vermeiden kann. Will ich auch gar nicht.“ In solchen Momenten bleibt Angelika dann doch der Stupsi treu.
Soziale Aachener