Seit seinem Dienstantritt im Januar 2008 hat Jürgen Seeberger vieles richtig gemacht. Bereitwillig hat sich der 43-Jährige in bestehende Strukturen gefügt. Er verzichtete beispielsweise auf das in der Branche ansonsten übliche Mitbringen eines Co-Trainers, holte darüber hinaus früh seine Familie nach Aachen, um die Kaiserstadt zu seinem Lebensmittelpunkt zu machen. Anders als manch ständiger Hotelgast unter seinen Kollegen gab er damit ein klares Bekenntnis zu seinem Arbeitgeber ab.
Auch dass er die Alemannia nach dem Buchwald-Desaster zunächst in ruhigeres Fahrwasser und zuletzt wieder in den Kreis der Aufstiegskandidaten führte, muss man ihm hoch anrechnen. Auf den ersten Blick drängt sich der Eindruck auf, dass es für den Trainer nach zwei Halbserien und insgesamt 58 erspielten Punkten rund läuft an der Krefelder Straße. Die Tabelle lügt schließlich nicht. Doch sie erzählt auch nur die halbe Wahrheit. Und sie scheint in Aachen derzeit der einzige Freund des Trainers zu sein. Wie es aussieht, hat dieser die emotionale Komponente bei der Alemannia schlichtweg unterschätzt.
Denn hier wird Sympathie und Antipathie gegenüber den handelnden Personen des Vorzeigevereines seit jeher nicht ausschließlich an sportlichem Erfolg gemessen. In diesem Zusammenhang muss man nicht sonderlich tief schürfen, um festzustellen, dass weite Teile der hiesigen Anhängerschaft mit ihrem Übungsleiter bisher nicht warm geworden sind. Und es wohl auch nicht mehr werden.
Danke (ab)!
Als etwa eine Serie von sechs ungeschlagenen Spielen ihr Ende in einem erbärmlichen Auftritt beim FC Augsburg fand, mutierte ein gut gemeinter „Danke Trainer“-Diskussionsfaden im größten schwarz-gelben Internetforum innerhalb kürzester Zeit zur Spielwiese für Zyniker. Von „Danke“ ist es eben nicht weit bis zu „Danke ab!“. Manch einer erhob sogar Dieter Hecking, nach seiner Fahnenflucht im August 2006 noch zur „Persona non grata auf Lebenszeit“ erklärt, zum leuchtenden Gegenbeispiel. Doch die Kritiker beschränken sich nicht nur auf billige Polemik. In konstruktiven Beiträgen sezieren sie das vom Trainer bevorzugte Spielsystem, kommen unisono zu dem Ergebnis, dass es zu defensiv sei, zu kontrolliert. Im Endeffekt zu wenig begeisternd.
Und tatsächlich lag bei den bisherigen Heimspielen eine seltsam lethargische Stimmung über dem altehrwürdigen Tivoli. Hier, wo mit dem kleinsten Anzeichen von Kampfbereitschaft und Leidenschaft leicht ein Hexenkessel zu entfachen ist, wurde in der Hinrunde meist nur auf Sparflamme gekocht. Auch eine überragende Heimbilanz konnte daran nichts ändern.
„Man kann den meisten Fans eben nur schwer vermitteln, dass man bei einer Führung Ball und Gegner laufen lassen muss. Zur Not auch hintenrum.“
Jürgen Seeberger fühlt sich und sein Spielsystem unverstanden
Diese Erkenntnis ist auch an Jürgen Seeberger nicht vorbei gegangen. „Man kann den meisten Fans eben nur schwer vermitteln, dass man bei einer Führung Ball und Gegner laufen lassen muss. Zur Not auch hintenrum.“ Dass die stimmungsvollsten Minuten der Saison genau in die Phase fielen, als seine Spieler die Gastmannschaft aus Mainz durch entschlossenes Auftreten in der eigenen Hälfte einschnürten, nimmt er zwar zur Kenntnis, will daraus aber keine Konsequenzen für die Rückrunde ableiten.
„Überzogene Aggressivität führt zu mehr Foulspielen. Fouls führen zu gefährlichen Standardsituationen und die gilt es, in erster Linie zu verhindern. Deshalb fordere ich, dass man den Gegner mit fairen Mitteln weit weg vom eigenen Tor hält.“ Bis auf weiteres wird es somit wohl beim ungeliebten und dennoch zuletzt meist praktizierten Verwaltungsfußball bleiben.
Wie leicht dieser kontrollierte Schuss aber nach hinten losgehen kann, haben die letztjährigen Pokaldarbietungen der Alemannia gezeigt. Während sich im Ligabetrieb auch schon einmal ein müdes Unentschieden über die Zeit bringen lässt, muss man im „Hopp oder Top“-Wettbewerb Willen, Biss und Einstellung mitbringen, um zu gewinnen. Und genau diese Eigenschaften fehlten der Seeberger-Truppe in den entscheidenden Momenten.
Konnte man das Ausscheiden gegen 1860 München zu Jahresbeginn noch unter „Pech gehabt“ abheften, kam die Niederlage bei Wehen-Wiesbaden einem Offenbarungseid gleich. Einem teuren zudem. Die Finanzabteilung der GmbH dürfte not amused gewesen sein. Die mitgereisten Fans waren es auf alle Fälle nicht. Das Auftreten des Trainers bei der Aussprache am Zaun setzte dem Ganzen die Krone auf.
Einige wenige redeten sich sein Dauergrinsen als Zeichen von Unsicherheit schön. Der Großteil des Auswärtsmobs jedoch empfand es als pure Arroganz. Ein Eindruck, der hängen blieb. Selbst der tabellarische Aufschwung im Spätherbst hat ihre Verärgerung nicht lindern können. Jürgen Seeberger bleibt ein rotes Tuch für diese Anhänger, seine einzig auf das Ergebnis konzentrierte Spielphilosophie eine Spaßbremse.
Euphorielos, hilflos, geschmacklos
Mehr als unglücklich mutet da dessen Ende November geäußerte Forderung nach mehr Euphorie im Umfeld der Alemannia an. Nur einen Tag danach relativierte er seinen Rundumschlag zwar wieder, doch das hierzu gewählte Medium, die Alemannia-Homepage, lässt auf ein angeordnetes Zurückrudern schließen. Wie wenig den Vereinsverantwortlichen der Vorstoß ihres Trainers geschmeckt haben mag, zeigte sich kurz darauf.
Die Wogen schienen gerade geglättet, als Präsident Horst Heinrichs noch einmal via „Bild“ nachfragte, woher ein Stimmungsaufschwung bei den Fans denn überhaupt kommen solle. Und wo der Boss gerade schon einmal dabei war, ließ er die interessierte Öffentlichkeit gleich noch wissen, dass er sich selbst ebenfalls in keinster Weise euphorisch fühle. Auch diese Aussagen wurden nachträglich verbessert und verwässert. Das Kind war dennoch schon in den Brunnen gefallen, Unstimmigkeiten zwischen Führungsetage und sportlicher Leitung offenbar geworden. Alles nur eine Frage der fehlenden Euphorie?
Auf der Suche nach möglichen anderen Ursachen wird man in der Schweiz fündig. Hier hat Jürgen Seeberger sieben Jahre als Trainer des FC Schaffhausen gearbeitet, bevor er im Frühjahr 2007 entlassen wurde. Matthias Dubach, Redakteur beim eidgenössischen Fußballkulturmagazin „Zwölf“, erinnert sich noch gut an diese Zeit. Der 27-Jährige beschreibt den Ex-Coach seines Lieblingsvereines als stillen, zurückhaltenden Disziplinfanatiker, der mit seinen Emotionen nicht hausieren geht.
„Wenn jemand versucht, ihm hineinzureden, schaltet er einfach auf stur.“
Sportredakteur Matthias Dubach hat Jürgen Seeberger beim FC Schaffhausen erlebt
„Jürgen Seebergers Selbstvermarktung könnte sicherlich besser sein. Weit wichtiger als das Schwingen großer Reden ist für ihn aber das Feilen an der Taktik und die tägliche Arbeit mit der Mannschaft.“ Auf diesen Gebieten verlangt der Übungsleiter allerdings absoluten Entscheidungsfreiraum. Ansonsten kann es auch schnell einmal vorbei sein mit still und zurückhaltend. „Wenn jemand versucht, ihm hineinzureden, schaltet er einfach auf stur.“ Wie wenig ein Angestellter Marke dickköpfiger Alleingänger bei den Entscheidungsträgern der Alemannia ankommt, weiß man aber spätestens seit den Vorgängen um Jörg Schmadtke.
In diesem Zusammenhang bekommt der Euphorie-Disput einen etwas anderen Beigeschmack. Nicht nur in Aachen haben solch kleine Zwistigkeiten in der Vergangenheit oftmals den zarten Beginn einer Trainer-Demontage dargestellt. Und die Lokalpresse ist bereits angesprungen. So spricht das Interview zum Abschluss der Hinrunde eine deutliche Sprache. Dass Jürgen Seeberger auf eine Frage mit Schweigen antwortete, hätte man bei einem uneingeschränkt respektierten Trainer vermutlich nicht abgedruckt. Auch sonst wird stellenweise der Eindruck eines Menschen zwischen Hilflosigkeit und Dünnhäutigkeit vermittelt.
Erstaunlicherweise sind die Vorreiter der Stimmungsmache noch nicht auf den Zug aufgesprungen. War Aachens Trainer im Sommer für den Boulevard noch der Buhmann, hat sich seine Darstellung in den entsprechenden Blättern seither gewandelt. Für die „Bild“ stellt er derzeit den Heilsbringer und Aufstiegstrainer dar. Klarer Fall von Trend verpasst. Wie gut, dass da in Sachen unterste Schublade andere in die Bresche springen. Dass ein Verwaltungsratsmitglied während einer Sponsorenveranstaltung lauthals herausposaunte, Jürgen Seeberger werde schnellstmöglich seinen Stuhl räumen müssen, markiert dabei nur den Gipfel der Geschmacklosigkeit.
Schnupperkurs für Fortgeschrittene
Bei derart heftigem Gegenwind dürfte es niemanden wundern, dass dieser mittlerweile bis weit über Aachens Stadtgrenzen weht. Auch dem neuen Sportdirektor Andreas Bornemann war schon vor Dienstantritt der auf allen Ebenen fehlende Rückhalt für Jürgen Seeberger zu Ohren gekommen. Für die ersten Tage im Amt hat er daher die Klärung der Personalie Trainer an die höchste Stelle seiner Prioritätenliste gesetzt. Zu diesem Zweck möchte er seinen obersten Angestellten im Trainingslager auf Zypern beschnuppern. Ein Schnupperkurs für Fortgeschrittene. Schließlich weisen die Lebensläufe der beiden einige frühere Berührungspunkte auf.
So lagen ihre letzten Arbeitsplätze nur eine Handvoll Steinwürfe und einen Grenzübergang voneinander entfernt. Beide haben im Rahmen von Transfergesprächen schon miteinander zu tun gehabt. Zudem hat der Coach einige Wochen beim SC Freiburg unter Volker Finke hospitiert. Anfang 2007 war er sogar als heißester Kandidat auf dessen Nachfolge gehandelt worden, um es am Ende doch nicht zu werden. Damals Manager im Breisgau: Andreas Bornemann. Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte sich dieser schon einmal intensiv mit Jürgen Seeberger beschäftigt haben. Man darf gespannt sein, welche neuen Erkenntnisse sich aus dem Kennenlernprozess 2.0 ergeben werden.
„Heute sieht man, dass wir in allen Punkten Recht hatten.“
Jürgen Seeberger Klopft sich auch mal auf die eigene Schulter
Während der in Frage gestellte Trainer die Situation im „Kicker“ als normalen Vorgang abtut, gibt er im kleinen Kreis zu, dass ihn die Aussagen seines neuen Vorgesetzten nachdenklich gestimmt haben. Sonderlich viel vorzuwerfen hat er sich nach eigener Einschätzung nicht. Dass sein Spielsystem nicht dem Gusto der meisten Tivolibesucher entspricht, sieht er durch die Punktausbeute wettgemacht. Einige harte Personalentscheidungen im Frühjahr und Sommer ebenso. „Heute sieht man, dass wir in allen Punkten Recht hatten. Auch in ihren neuen Vereinen spielen Weigelt und Reghecampf keine großen Rollen.“
Bei dieser Einschätzung übersieht Jürgen Seeberger allerdings, dass die Entscheidungen schon seinerzeit als sportlich nachvollziehbar bewertet worden waren. Lediglich die Art und Weise der Aussortierungen war den Fans bitter aufgestoßen. Dabei hat vor allem die Abschiebung Alexander Klitzperas während der Sommerpause mehr Staub aufgewirbelt als nötig gewesen wäre. Für viele Anhänger kam sie der Schlachtung einer heiligen Kuh gleich.
Sechs Jahre hatte der gebürtige Münchener für die Alemannia gespielt, sich dabei als loyalen Angestellten präsentiert, der einen würdigen Abgang verdient gehabt hätte. Stattdessen gab es mit der groben Kelle. Mit dem Verweigern einer Rückennummer und eines Parkplatzes am Trainingsgelände wurde ihm öffentlich die Mannschaftszugehörigkeit abgesprochen. Jürgen Seebergers Bemerkung, es sei erstaunlich, dass Klitzpera trotz seines Talents auf Zweitliganiveau spiele, mag ein gut gemeintes Kompliment gewesen sein.
„Im Fußballgeschäft darf man nicht zart besaitet sein.“
Der Coach setzt zwischenmenschlich auch mal auf die grobe Kelle
Weil „gut gemeint“ aber das Gegenteil von „gut“ ist, stellte sie den Startschuss zu einer medialen Schlammschlacht dar und dürfte zudem den Preis des Ungewollten nicht unbedingt in die Höhe getrieben haben. Am Ende zahlten die Schwarz-Gelben beim Transfer in Richtung FSV Frankfurt sogar noch drauf. Aus Mannschaftskreisen vernimmt man seither immer häufiger Zweifel an den zwischenmenschlichen Fähigkeiten und der Führungskompetenz des Trainers. Die Auflösung des Mannschaftsrates zu Saisonbeginn tat ihr Übriges dazu. Für solche Sentimentalitäten hat der Angezweifelte indes kein Verständnis. „Im Fußballgeschäft darf man nicht zart besaitet sein.“
Damals wie heute
Wie wenig zart Jürgen Seeberger tatsächlich besaitet ist, weiß Daniel Koch. Der Sportredakteur der „Schaffhauser Nachrichten“ hat Aachens Übungsleiter während dessen Schweizer Dienstjahren als akribischen Arbeiter kennen gelernt, der ein klares Spielsystem vor Augen hat. Dass jeder, der nicht in dieses System passt, ohne Rücksicht auf Verluste aussortiert wird, ist für den Journalisten ein alter Hut.
Dennoch hält er große Stücke auf den Ex-Coach des FC Schaffhausen. „Jürgen Seeberger hat beim FCS Außergewöhnliches geleistet, dem Verein klare Strukturen gegeben und aus überschaubarem Spielermaterial eine erfolgreiche Mannschaft geformt.“ Sein Rauswurf im Frühjahr 2007 habe keine sportlichen Gründe gehabt. Vielmehr sei ein Monate währender Streit mit dem Vereinspräsidenten eskaliert, als der Trainer ankündigte, seinen Vertrag nicht verlängern zu wollen. Erst nach seiner Demission sei es am Rheinfall steil bergab gegangen. In weiten Teilen decken sich Kochs Schilderungen mit denen von Matthias Dubach. Vieles, was er aus Seebergers Vergangenheit berichtet, findet sich auch in der kaiserstädtischen Gegenwart wieder.
„Im Abstiegskampf der ersten Liga wäre Seeberger der perfekte Trainer für Alemannia Aachen. Als Underdog fühlt er sich am wohlsten.“
Journalist Matthias Dubach hält den Alemanniacoach für einen Trainer von Bundesligaformat
Da ist von grundsätzlicher Diskussionsbereitschaft die Rede, aber auch von zunehmender Empfindlichkeit gegenüber der Presse, von einer Mannschaft ohne echte Führungsfigur, von wissenschaftlich verkopften Spielanalysen und einer allzu defensiven Grundausrichtung, die den Fans nicht unbedingt geschmeckt hatte. Der Erfolg habe dem Coach aber jederzeit Recht gegeben. Und so hält Koch Jürgen Seeberger aus rein sportlicher Sicht für einen Fußballlehrer von Bundesligaformat. Matthias Dubach teilt diese Meinung: „Im Abstiegskampf der ersten Liga wäre Seeberger der perfekte Trainer für Alemannia Aachen. Als Underdog fühlt er sich am wohlsten. Mit dem Rücken zur Wand kam sein System auch in Schaffhausen erst richtig zum Tragen.“
Inwieweit die beiden Kenner des eidgenössischen Fußballs mit dieser Einschätzung Recht haben, könnte im Aufstiegsfall die Zukunft zeigen. Sofern es denn überhaupt zu einer Verlängerung des Trainer-Engagements über den Sommer hinaus kommt. Weil von Vereinsseite in dieser Sache zuletzt nur nebulöse Absichtserklärungen zu hören waren, bleiben Zweifel durchaus angebracht. Auch wenn Jürgen Seeberger in Aachen bislang vieles richtig gemacht hat.