„Jetzt ist schon wieder Frühling.“ Monika Fuchs hat sich auf ihrem Stuhl zurückgelehnt und schaut aus dem Fenster. Ihr Blick schweift hinaus in den Garten. Dort beginnt es zu grünen und zu blühen. „An Tagen wie diesen musste ich immer aufpassen, dass der Werner im Garten keinen Unsinn macht“, lächelt sie. „Für ihn war alles, was nicht Rasen ist, Unkraut.“
Achtundzwanzig Ehejahre haben viele Erinnerungen dieser Art hinterlassen. Vor fünfzehn Jahren sind die beiden in das Haus am Rande der Soers, in unmittelbarer Nähe zum Tivoli gezogen. Auch fünf Jahre nach seinem tragischen Tod ist Werner Fuchs hier allgegenwärtig.
Der Besucher bemerkt zunächst das kleine Tischchen an der Terrassentür. Neben ständig frischen Blumen ist es voll gestellt mit Fotos: der Ehemann im Urlaub. Der Alemannia-Coach auf dem Trainingsplatz. Und wenn Monika Fuchs zu erzählen beginnt, scheint der Mensch Werner Fuchs nahezu physisch präsent.
Die Alemannia war „sein“ Verein
Foto: Carl Brunn
Es war in Kaiserslautern und sie war Sechstklässlerin, als sie Werner kennenlernte. „Es hat sofort gefunkt.“ Sie trafen sich einige Male und aus der Teenagerliebe wuchs tatsächlich eine dauerhafte Beziehung. Eigentlich eine typische Geschichte für ihren Werner. „Werner war nicht gerade ein Romantiker. Er wollte kein Liebeskasper sein, hat lieber die große Lampe als viele kleine Kerzen angezündet.“
Das Ja-Wort gaben sich beide dann 1971. Sechs Jahre später kam Sohn Marco zur Welt. Der Vater verdiente sein Geld als Maschinenschlosser und spielte mittlerweile nur noch Feierabendfußball. Die Mutter arbeitete als Rechtsanwaltssekretärin. Anfang der 80er Jahre entschloss sich der fußballverrückte Werner, sein Hobby zum Beruf zu machen. Er trat die Ausbildung zum Fußballlehrer an und erhielt 1984 sein Diplom. Und prompt flatterte das erste Jobangebot ins Haus.
Sein Freund Rolf Grünther hatte den Kontakt zu Alemannia Aachen hergestellt. Beide Seiten waren voneinander überzeugt. Für Werner Fuchs begann eine erfolgreiche Karriere, und die Familie machte sich auf, eine neue Heimat zu entdecken. Allerdings folgten elf Umzüge, bis man sich endgültig in der Kaiserstdt niederließ. Hier blieb man dann auch in den Zeiten, in denen der Vater seinen Arbeitsplatz beispielsweise in Berlin oder Braunschweig hatte. Doch auch Werner Fuchs kam zurück an den neuen Familiensitz und seine erste Wirkungsstätte. 1996 unterschrieb er einen Vertrag beim damaligen Regionalligisten Alemannia Aachen. „Alemannia, das war immer Werners Verein. Er hat jederzeit genau verfolgt, wie es da lief. Auch aus der Ferne“, berichtet Monika Fuchs.
„Am Tivoli ist nichts mehr von Werner.“
Auch ihr ist die Alemannia nicht gleichgültig. Mit Freude hat sie den Aufschwung der letzten Monate zur Kenntnis genommen. Beim Thema Pokalfinale glänzen ihre Augen. Sie spricht von Gänsehaut, wenn sie über die Spiele gegen Bayern und Mönchengladbach redet, die sie vor dem Fernseher verfolgt hat. Bei Ligaspielen ist sie meistens per Videotext dabei. Allerdings belässt sie es bei diesem Kontakt auf Distanz. Im Stadion war sie seit zweieinhalb Jahren nicht mehr. „Da ist nichts mehr von Werner“, begründet sie einsilbig.
Dennoch besteht kein Zweifel: Monika Fuchs ist in Aachen zu Hause. Dabei ist es für die 53-Jährige von großer Bedeutung, dass auch Sohn Marco hier seine Wurzeln geschlagen hat. Der 27-Jährige steckt in der Endphase seines Elektrotechnikstudiums. Seine Nähe ist ihr wichtig. Die beiden führen viele Gespräche und sind einander die stärkste Stütze bei der Bewältigung des Erlebten. Denn das ist noch lange nicht ganz geschafft. „Werner war und ist meine große Liebe. Und Trauerarbeit ist harte Arbeit“, weiß Monika Fuchs. Sie will sich dem auch nicht verschließen. Hierzu spielte ihr „Leitwolf“ eine zu große Rolle in ihrem gemeinsamen Leben.
„Tschüss, Schatz. Bis heute Mittag.“
An den Morgen des 11. Mai 1999 erinnert sie sich denn auch gleichzeitig genau und verschwommen. Ganz deutlich klingen noch seine Worte zum Abschied in ihrem Ohr: „Tschüss, Schatz. Bis heute Mittag.“ Er fuhr zum Training, sie in die Stadt. Dort berichtete ihr ein Freund der Familie von einem Zwischenfall beim Waldlauf. Als sie nach Hause zurückkehrte, warte dort bereits Bernd Krings. Die Nachricht von den vergeblichen Versuchen, das Leben des Trainers zu retten, erreichte den Alemannia-Funktionär dann schließlich per Handy. Die Erinnerung an die Stunden danach ist für Monika Fuchs nur noch bruchstückhaft da. „Dauernd klingelte das Telefon. Irgendjemand nahm dann ab. Mir war das alles zu viel.“
Einzig die Gefühlskälte und Pietätlosigkeit einiger Mitmenschen treibt ihr auch fünf Jahre später noch die Verbitterung ins Gesicht. „Über fünfzehn Beerdigungsinstitute haben sich bei mir gemeldet und mehr als zwanzig Steinmetze. Und dann waren da einige Makler, die gefragt haben, ob ich das Haus verkaufen wolle. Einer tauchte sogar hier auf und machte Fotos. Da war Werner noch nicht mal beerdigt.“
Die Vollendung des Lebenswerks ihres Mannes, den Aufstieg seiner Alemannia in die zweite Liga und die damit verbundenen Feierlichkeiten, verfolgte sie von zu Hause aus. Die Kraft, in die Öffentlichkeit zu gehen, brachte sie nicht auf. Auch in diesem Augenblick erwies sich Filius Marco als der notwendige Halt. „Es ist unglaublich, wie er sich nach dem Aufstieg mit der Mannschaft auf die Rathaustreppe gestellt hat“, erzählt sie voller Stolz. „Das hat niemand von ihm verlangt. Er hat es nur für seinen Vater getan.“ Und dann war es vorbei. Für die Alemannia begann eine neue Zeitrechnung, die von anderen Leuten geprägt wurde.
Alemannia radiert Werner Fuchs aus
Dennoch geschah die Abnabelung vom Verein nicht unmittelbar. Monika Fuchs wurde sogar Angestellte der Schwarz-Gelben und arbeitete im neu eingerichteten Fanshop in Aachens Innenstadt. Zu lange war der Club ein wesentlicher Teil ihres Lebens gewesen, als dass sie einen sofortigen Schnitt machen wollte. Fast gewinnt man den Eindruck, dass sie auf diese Weise die Nähe zu ihrem verstorbenen Mann fand. Monika Fuchs besuchte sogar die Zweitligapremiere der Kartoffelkäfer gegen die Stuttgarter Kickers. Trainer Eugen Hach nutzte die Gelegenheit zu einer mediengerechten Umarmung.
Foto: Carl Brunn
Doch schon in diesen Tagen beschlich sie die Ahnung, dass „die Leute, die an seinem Todestag bei mir im Wohnzimmer saßen, nichts mehr mit dem Namen Werner Fuchs zu tun haben wollten.“ Zu bestätigen schien sich ihr Gefühl, als ein von einem Gönner gestiftetes Bild ihres Mannes aus der Vitrine des Fanshops entfernt wurde. Auf die Frage nach dem Warum erhielt sie die Antwort, dass man aus dem Fanshop keine Kultstätte machen wolle.
Eine ähnliche Begründung musste herhalten, als in einer Vereinsbroschüre auf dem Bild einer Werner Fuchs gewidmeten Zaunfahne der Name des Trainers herausretuschiert wurde. Auch im Freundeskreis trennte sich schnell die Spreu vom Weizen. „Wer hat sich nicht alles ‚Freund’ von Werner genannt. Nur wenige sind übrig geblieben. Aber bei denen weiß ich, was ich an ihnen habe. Ich habe mich in einigen Menschen eben sehr getäuscht. Und Werner sicher auch.“
Und dann sind da noch die Ungereimtheiten um die Feststellung der Todesursache. Bei der durchgeführten Obduktion wurde ein schweres Herzleiden attestiert. Doch unter diesen Umständen hätte die nur acht Wochen zuvor durchgeführte Meniskusoperation niemals vorgenommen werden können. Die Berufsgenossenschaft verweigerte daraufhin jegliche Zahlungen. Als weitere Begründung schob sie hinterher, dass ein Waldlauf ohnehin nicht zum täglichen Betätigungsfeld eines Trainers gehöre.
„Es ist unheimlich schwer, um einen Menschen zu trauern, wenn man noch nicht einmal weiß, woran er gestorben ist.“
Monika Fuchs ging in die Offensive, forderte Einsicht in Akte und OP-Protokoll. Doch im Archiv des Krankenhauses war plötzlich nichts mehr auffindbar. „Es ist unheimlich schwer, um einen Menschen zu trauern, wenn man noch nicht einmal weiß, woran er gestorben ist.“ Solche Dinge verärgern Monika Fuchs. Fehlende Menschlichkeit, der Verrat einer Freundschaft und das Vergessen treffen sie. Plausibel zu begründende Entscheidungen akzeptiert sie jedoch ohne Wenn und Aber.
So hat sie auch die Kündigung ihrer Anstellung bei der Alemannia hingenommen. Vor dem Hintergrund der großen Finanzprobleme, in die der Verein manövriert worden war, musste der Fanshop geschlossen werden. „Das neue Präsidium hat zu Recht aufgeräumt. Die Alemannia ist auf dem besten Weg zu einem echten Wirtschaftsunternehmen“, zeigt sie Verständnis. Doch persönliche Kontakte zum Verein hält sie nicht mehr. „Den Lämmi oder den Christian Schmidt treffe ich ab und zu noch. Aber das ist auch schon alles.“
„Niemand kann sich vorstellen, wie sehr ich diesen 11. Mai hasse.“
Es sind die Fans, die sie heute noch mit der Alemannia verbinden. Oft wird sie auf der Straße erkannt und angesprochen. „Die meisten fragen mich, wie es mir geht. Das finde ich schön.“ Die Zaunfahne, von der ein Miniaturexemplar auf dem Tischchen an der Terrassentür steht, zeigt ihr, dass ihr Mann nicht vergessen wird. „Werners Mutter freut sich immer wieder, wenn sie die im Fernseher sieht.“ Und wenn Monika Fuchs einmal pro Woche zum Friedhof geht, findet sie oft kleine schwarz-gelbe Aufmerksamkeiten, die leider genauso oft wieder spurlos verschwinden. „Ich möchte, dass die Fans wissen, dass nicht ich es bin, die diese Dinge entfernt. Von mir aus darf da gerne etwas liegen.“
Eine Frage der Zeit
Am Grab hält Monika Fuchs stille Zwiesprache mit ihrem Mann. Dann erzählt sie ihm von den Erlebnissen der vergangegen Woche. Das sind die Momente, in denen sie am wenigsten versteht, was passiert ist. In denen sich der Verlust noch tiefer in ihre Seele frisst. Dann sind da noch die Geburtstage, Weihnachten und Silvester. An diesen Tagen fällt sie in ein Loch. Den Todestag würde sie am liebsten komplett aus dem Kalender streichen. „Niemand kann sich vorstellen, wie sehr ich diesen 11. Mai hasse.“
Trotz allem merkt man Monika Fuchs an, dass sie keinesfalls den Eindruck einer entmutigten Frau machen möchte. Mitleid sucht sie nicht. „Der Kummer hat an Intensität nachgelassen und ich hatte achtundzwanzig harmonische Jahre mit einem wundervollen Mann. Die Dankbarkeit darüber lindert den Schmerz ein bisschen.“
Die Familie ist ihr Hafen geworden. So zum Beispiel ihre beiden Nichten: Die jungen Frauen kommen regelmäßig aus Kaiserslautern zu Besuch, um ihre Tante zum Shoppen nach Maastricht oder auch schon mal ins Starfish zu entführen. Monika Fuchs genießt diese Art der Zerstreuung. Deshalb ist sie auch viel unterwegs, fährt häufig zu Freunden und Verwandten. Doch das reicht ihr nicht. Erst kürzlich hat sie einen Computerkurs absolviert und ihre EDV-Kenntnisse aufgefrischt. Gerne würde sie ins Berufsleben zurückkehren. „Ich brauche einfach wieder eine Bestätigung. Ich muss raus hier. Und wenn es nur für halbe Tage ist.“
Bei der Frage nach ihren Zukunftsträumen schweift ihr Blick abermals hinaus in den Garten. „Meine Träume? Die sind noch in der Vergangenheit. Man sagt, dass die Zeit alle Wunden heilt.“ Und dann fügt sie leise hinzu: „Ich habe diese Zeit noch nicht gefunden.“