Als die leckgeschlagene Alemannia 1990 unterging, war ihr Ansehen in Stadt und Kreis ruiniert. Erzürnt über verpatzte Aufstiegsrennen, genervt von hemdsärmeligen Präsidenten, von Pleiten, Pech und Pannen schütteten die Aachener kübelweise Häme über ihrem Heimatverein aus, belächelten die folgenden acht Aufstiegsversuche, fanden Nachrichten über den Klub nur noch in den hintersten Winkeln der Lokalzeitungen.
Nach dem Wiederaufstieg besserte sich die Lage zunächst, doch als würgende Übungsleiter und verschwundene Geldkoffer der Chronique scandaleuse um die Jahrtausendwende herum neue Kapitel hinzufügten, schien der letzte Kredit endgültig aufgebraucht. Nicht zuletzt der soliden Arbeit und dem Erfolg der jüngsten Vergangenheit ist es zu verdanken, dass sich das Blatt seit einiger Zeit erneut zum Guten gewendet hat. Die Alemannia ist wieder salonfähig, wieder Thema in den Kinderzimmern. Eine neue Fangeneration wächst heran und scheut sich nicht, schwarz-gelb zu tragen. Und das voller Stolz.
Wie etwa Max, ein zehnjähriger Dreikäsehoch, den wir auf einem Bolzplatz im Frankenberger Viertel treffen. Seine Tivoli-Premiere hat er längst hinter sich. In der Saison 2002/03 war er erstmals in Begleitung seines Vaters im Stadion. Seither zieht es ihn immer wieder dorthin zurück, besonders der Stimmung wegen, wie er sagt, aber auch, weil er seinen Lieblingsspieler Kai Michalke hautnah erleben möchte. Einen Großteil seiner zahlreichen Fanartikel hat Max aus eigener Tasche bezahlt. Wie sein Freund Konstantin, ebenfalls zehn und stolzer Eigentümer einiger Schals, Trikots, Kappen und Taschen. Er schwärmt für Erik Meijer. Und warum gerade für den? Auf seinem Gesicht zeigt sich ein feierliches Erstaunen ob solcher Nachfrage: „Weil der einfach nur gut ist!“
Adrian, Daniel, Max und Konstantin, die zusammen mit anderen Kids den Bolzplatz bespielen, haben vieles gemeinsam: das Alter, die Technik, den strammen Schuss. Und eben die Neigung zu Alemannia Aachen. Richtig warm geworden mit den Schwarz-Gelben sind sie erst durch das Fernsehen. Dass der Aachener Nachwuchs der Alemannia verfällt, in den Spuren der Väter den Weg an die Krefelder Straße findet, ist nicht selbstverständlich. Oder besser: nicht mehr.
Charakter einer Weihe
Glauben wir Alan Edge, erfolgreichem Buchautor und glühendem Anhänger des FC Liverpool, war es früher nicht vorgesehen, sich dem Herkommen entgegenzustellen. Man kam zu seinem Verein wie ein Kleinkind zur Taufe: ungefragt, automatisch und widerspruchslos. Die Tradition ersetzte das Wasser, der Vater den Priester, das Stadion die Kirche.
„You did not choose, it chose you!“
Autor Alan Edge über die althergebrachte „Wahl“ des Lieblingsvereins
Ohne die fußballverschleißende Medienmaschine unserer Tage wurde der erste Stadionbesuch viel intensiver erlebt, hatte das plötzliche Eintauchen in eine lärmende, schreiende Menge den Charakter einer Weihe, die – längst vorherbestimmt – nur noch vollzogen werden musste. Ob man es nun mit Schalke oder dem BVB, mit Aachen oder Köln, mit Everton oder Liverpool hielt: „You did not choose, it chose you!“
Und heute? Ist dieses Diktum, das natürlich nie Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben konnte, nur noch eine Worthülse, die der Beliebigkeit des modernen Fandaseins nicht mehr gerecht wird. Mit typisch britischem Humor erklärt Edge die Ursachen dieser Entwicklung, macht augenzwinkernd zu liberale Erziehungsmethoden, die Gier des Fußballbusiness und den Einfluss der Medien für die Auslöschung lokaler Initiationsriten verantwortlich.
Die Folge: Jugendliches Renegatentum, das jeden Winkel Großbritanniens mit Millionen roter, weißer, schwarzer, blauer, grüner, pinker, grauer, brauner, gesprenkelter, getupfter oder gestreifter Manchester-United-Trikots verseuche, weil die gerade hip sind.
Schwindende Loyalität
Man braucht nur Manchester United durch den FC Bayern München zu ersetzen, um sich in die Situation diesseits des Kanals einzufinden. Denn auch in unserer hochmobilen Mediengesellschaft lässt sich von Wohn- und Geburtsort kaum noch sicher auf den Lieblingsverein eines Fußballfans schließen. Erwählen lassen sich nur noch die wenigsten, die Mehrheit wählt eine jener zurechtgestylten Fußballfirmen, die sich inzwischen allwöchentlich im europäischen „Champions-League-TV“ präsentieren. Global Player mit Millionenumsätzen, gegen die kleinere Klubs angesichts schwindender Loyalität und trotz ihrer bisweilen stolzen Tradition kaum eine Chance haben.
Zwar ist die Anhängerschar mancher Regionalligisten durchaus beachtlich. Bei einem längeren Aufenthalt im Amateurbereich schrumpft sie jedoch wie der Eisberg im globalen Treibhaus, weil potenzieller Fannachwuchs, der noch kein Stadion betreten hat, über die Medien bereits an andere Vereine herangeführt wird. Auf diese Weise blutet eine Kurve aus. Im günstigsten Fall darf sich der unterklassige Klub den Fan mit einem großen Proviverein teilen.
Ähnliche Erfahrungen hat auch die Alemannia gemacht. In der Altersklasse der 22- bis 32-Jährigen scheint ihre Fanbasis schmaler als bei anderen Klubs mit nennenswertem Anhang. Es fehlen diejenigen, die sich mit der Drittklassigkeit in den Neunzigern nicht abfinden, die ihre vitale Fußballbegeisterung lieber auf dem Bökelberg, im Müngersdorfer Stadion oder als Coupotatoes vor dem Fernseher ausleben wollten. Und das sind nicht wenige.
Auch der kleine Daniel vom Bolzplatz findet an Alemannia vor allem die Fans klasse. Sein fußballerisches Vorbild sucht sich der ehrgeizige Nachwuchskicker lieber woanders. Mit Bayern München hat er ein zweites Eisen im Feuer, war sogar schon bei einem Sieg der Münchener über den VfL Bochum im Olympiastadion zu Gast und steckt nun im Trikot seines Lieblingsspielers Roy Makaay. Kann man ihm das verübeln? Wohl kaum. Wer etwas erreichen will, muss sich eben rechtzeitig hohe Ziele setzen.
Euphorie wie 1967
Indes, die Zukunft lässt hoffen. Denn die Zeiten, in denen die fußballbegeisterte Aachener Jugend scharenweise in Trikots ortsfremder Vereine durch die Gemeinde stolzierte, in denen Fehlfarben das Aachener Stadtbild dominierten, vor allem im Weltmeisterboom nach 1990, als die Kartoffelkäfer es vorzogen abzutauchen – diese Zeiten sind erst einmal vorbei. Auf dem Bolzplatz duellieren sich „Meijer“, „Pinto“, „Michalke“ und Co. gerade mit einer gleichaltrigen Weltauswahl aus Bayern, Madrilenen und Mailändern.
Noch vor wenigen Jahren wäre Schwarz-Gelb hoffnungslos in der Unterzahl gewesen. Die Stadt ist von einer Euphorie ergriffen, die nur mit der Situation nach dem Bundesligaaufstieg 1967 vergleichbar ist. Und es ist durchaus fraglich, ob die Resonanz in der Öffentlichkeit jemals breiter war als bisher. Selten waren die Spiele der Alemannia besser besucht, die Schlagzeilen internationaler, das Merchandising erfolgreicher.
Im zurückliegenden Weihnachtsgeschäft erzielte der Klub aus dem äußersten Westen der Republik mit seinen Fanartikeln einen für Aachener Verhältnisse gigantischen Umsatz. Die Addition der Wunschzettel ergab eine Summe jenseits der 500.000 Euro – mehr, als bei Hertha BSC Berlin, immerhin dem beliebtesten Verein in der größten deutschen Stadt, im gleichen Zeitraum über die zahlreichen Ladentheken ging. Angesichts solcher Zahlen darf einem Alemanniafan schwindelig werden.
Auslandserfahrungen
„Ob Sieg oder Niederlage: Dieses Pokalendspiel werden die Kinder nicht so schnell vergessen. Die nehmt Ihr jetzt mit in die Zukunft.“
Hertha-Fan Achim Lalla über das Finale von 2004 und dessen identitätsbildende Kraft
Als die schwarz-gelb gewandeten Massen im letzten Mai in Berlin ihren triumphalen Einzug hielten, meinte Achim Lalla, als der Alemannia wohlgesonnener Herthaner Zeuge der Partyorgie: „Ob Sieg oder Niederlage: Dieses Pokalendspiel werden die Kinder nicht so schnell vergessen. Die nehmt Ihr jetzt mit in die Zukunft.“ Die Ereignisse scheinen ihm Recht zu geben. Zumal der UEFA-Cup weitere Erinnerungen schuf, die die alemannischen Seelen noch Jahrzehnte bewegen werden, die auch den Ärger über einen – wieder einmal – verpatzten Aufstieg vergessen machen.
Was so ein Eintritt in internationales Rampenlicht auslösen kann, zeigt sich nicht nur im Umkreis des Jugendfußballs. Auch das befreundete Ausland behandelt den Öcher mit plötzlichem Respekt. „Ah, ein Alemanniafan“, lächelte etwa der Portier des Hotels zur Post in Ischgl. Und als ihm Sebastian Meier (10), Torwart bei der DJK Raspo Brand, seine beflockte Rückseite zeigt, hat er auch keine Probleme, den Vornamen des Spielers eigenständig zu ergänzen: „Und auch noch von Willi Landgraf!“
Alle Live-Übertragungen hat der brave Portier gesehen, ahnungslos, dass sein warmer Empfang für Sebastians Begleitpersonen lästige Nebenwirkungen mit sich brachte. Denn der zog das Trikot während des mehrwöchigen Aufenthalts nur noch für eilige Handwäschen aus, welche die Geruchsbelästigung der Tisch- und Zimmernachbarn in erträglichen Grenzen hielten.
Mehr Mädchen
Auch auf den Pausenhöfen und Schulfluren der Stadt begegnet man Alemannia auf Schritt und Tritt, zieren schwarz-gelbe Schals die Hälse und Taschen der Kinder und Jugendlichen. „Die Gruppe der Schüler mit schwarz-gelben Utensilien, Schals, Buttons oder Kleidungsstücken hat deutlich zugenommen, vor allem bei den Mädchen. Ich würde sogar sagen, man sieht deutlich mehr Mädchen damit als Jungen“, sagt der Lehrer Frank Rustemeyer.
Der gebürtige Paderborner geriet selbst schnell in den Dunstkreis des Tivoli, als er nach erfolgreichem Studium im Jahr 2001 von Münster nach Aachen übersiedelte. Beim letzten Heimspiel der Saison 2001/02 gegen den VfL Bochum erlebte er seine Premiere. „Ich war sofort begeistert von dieser ganz besonderen Atmosphäre“, schwärmt er. Vor seiner Aachener Zeit sei er eigentlich kein regelmäßiger Stadiongänger gewesen. Doch was weder dem SC Paderborn, noch Preußen Münster gelungen war, schaffte der Tivoli auf Anhieb: Im Anschluss an sein erstes Spiel kaufte sich Frank Rustemeyer eine Dauerkarte für die nächste Saison.
Der Tivoli ist dem Theologen, der am Burtscheider Einhard-Gymnasium die Fächer Deutsch, Geschichte, katholische Religion und Philosophie unterrichtet, vor allem ein Ort der Entspannung und eine Gegenwelt zum beruflichen Alltag. Hier kann er einfach mal abschalten, sich emotional identifizieren. Die Begeisterung für das irrationale Wesen des Fußballs hält den Musikliebhaber jedoch nicht davon ab, sich über dessen gesellschaftliche Rolle tiefgründige und zuweilen berufsbezogene Gedanken zu machen.
Dass man ihn mit Religion vergleicht, dass man Spieler zum Gott ausruft, sieht er gelassen. Schließlich müsse man zwischen Alltags- und Stadionverhalten, zwischen überschwänglichen Übertreibungen und ernsthaften Absichten unterscheiden. Natürlich habe er bei seinen regelmäßigen Stadionbesuchen die Erfahrung gemacht, dass der Fußball im Leben mancher Menschen durchaus eine Art Ersatzreligion, eine Kompensation für gesamtgesellschaftlichen Verlust darstellt. Ernsthaft sorgen müsse man sich aber erst dann, wenn die Leidenschaft für den Sport und das drumherum zum alleinigen Lebensinhalt eines Menschen werde.
Verbindende Funktion
„Ein gemeinsamer Tivolibesuch stärkt die Gemeinschaft mehr als tausend Klassengespräche.“
Lehrer Frank Rustemeyer geht mit seinen Schülern manchmal zur Alemannia
Darüber hinaus weiß Frank Rustemeyer die verbindende Funktion des Fußballs geschickt zu nutzen. Wenn er gelegentlich eine Klasse zu einem Besuch in den Juniorblock einlädt, dann geht es ihm um mehr als das reine Stadionerlebnis, um mehr als den Spaß am Spiel: „So ein gemeinsamer Tivolibesuch stärkt die Gemeinschaft mehr als tausend Klassengespräche. Demm der Alltag in einem Gymnasium spielt sich in der Regel auf einer rein kognitiven Ebene ab. Das muss auch so sein. Aber ohne einen Ausgleich ergeben sich schnell Defizite in anderen Bereichen. Daher ist es wichtig, mal etwas nicht Verkopftes zu machen.“
Das wirkt gründlich durchdacht. Wo egozentrischer Individualismus Klassen, Gruppen und Gemeinschaften in Einheiten zerteilt, die nur noch wenig gemeinsam haben, vielleicht nicht einmal einen Gesprächsstoff, kann der Fußball, kann die Alemannia Brücken bauen. Und sei es als kleinster gemeinsamer Nenner. Dass dabei aus Kindern Alemanniafans werden, ist ein durchaus angenehmer Nebeneffekt.
Die Sorge, dass raubeinige Schlachtgesänge dem kindlichen Gemüt schaden könnten, ist dem Lehrer mit der schwarz-gelben Seele fremd. „Dort hören die Schüler absolut nichts, was sie noch schocken könnte.“ Zudem seien die Kinder ebenso wie er in der Lage, zwischen Alltag und Tivoli zu unterscheiden. Auch wenn das nicht bedeutet, dass es im Stadion keine Regeln gibt. Eine Unaufgeregtheit, die manchem Leserbriefschreiber gut zu Gesicht stünde, der in seiner Empörung über den Tivolipöbel vergisst, dass in gebildete Formen gekleideter Hass viel gefährlicher ist als ein paar Kraftausdrücke.
Verein zum Anfassen
Mit Blick auf seine Schüler sieht Rustemeyer seinen Lieblingsverein auf einem sehr guten Weg. Eine Einrichtung wie der Juniorblock bietet mit einem Ticketpreis von 4,50 Euro auch wirtschaftlich schwachen Familien die Möglichkeit, ihren Kindern gelegentlich einen Stadionbesuch zu ermöglichen. Dass die Alemannia immer noch ein Verein zum Anfassen ist, beweist sie mit ihren Auftritten außerhalb des Rasenvierecks. Zu einer Podiumsdiskussion am Piusgymnasium entsandte der Verein Stars wie Meijer, Klitzpera und Grlic. Aktionen, die von den Kids begeistert aufgenommen werden.
Tradition, Atmosphäre und ein familiäres Umfeld: In dieser Formel sieht Frank Rustemeyer die Stärken des Vereins zusammengefasst. Wer solche Identifikationsmöglichkeiten biete, werde auch angenommen. Allerdings gehört dazu auch ein Mindestmaß an sportlichem Erfolg. Profifußball sollte es schon sein, und einige Runden in der Bundesliga würden die teilweise recht lockeren Beziehungen mit der im Kreis Aachen lebenden Bevölkerung weiter festigen.
Vorerst stehen die Aktien gut. Das Oliver-Kahn-Trikot von Nachwuchstorwart Sebastian ruht seit geraumer Zeit zusammen mit anderen Bayern-Utensilien auf dem Boden einer tiefen Kiste. Längst wurde es durch ein Dress von Stephan Straub ersetzt. Damit hat der Bayern-Titan innerhalb eines Jahres seine zweite Niederlage gegen die Alemannia erlitten. Er wird es sicherlich verkraften.