Mittwoch, 27.6.2001. Nur noch wenige Minuten sind im U20-WM-Achtelfinale zwischen Frankreich und Deutschland zu spielen. Beim Stand von 2:2 muss Benny Auer verletzt ausgewechselt werden. Dass sein Team mit dem Schlusspfiff den entscheidenden Treffer kassiert, bekommt der Mittelstürmer nur am Rande mit. Er hat andere Sorgen. Seine noch junge Karriere steht auf dem Spiel. Die Diagnose lautet Kreuzbandriss.
„Diese Verletzung war der größte Glücksfall meines Lebens.“ Auers heutige Bewertung dieser Ereignisse verblüfft. Ist ihm vom Schicksal nicht eine glänzende Zukunft verbaut worden? Immerhin wird er, damals gerade einmal 20-jährig, als aussichtsreichstes deutsches Offensivtalent gehandelt. Eine große Ehre. Aber auch eine ebenso große Bürde. Erste Anzeichen von Starallüren lassen nicht lange auf sich warten.
In Mönchengladbach strauchelt der Jungprofi über allzu arrogante Aussagen in einem Interview. Kaum ist die Tinte unter seinem Vertrag am Bökelberg getrocknet, hat sich Auer schon hoffnungslos mit Trainer Hans Meyer überworfen. Sich selbst überschätzend, scheint er seine Karriere zielstrebig in eine Sackgasse zu lenken. Gerade rechtzeitig öffnet ihm die U20-WM in Argentinien die Augen – in mancherlei Hinsicht.
Bei Ausflügen mit dem Team wird ihm der eigene Wohlstand erstmals in vollem Umfang bewusst. Die Armut in den Vierteln rund um das DFB-Quartier schockiert ihn. Obendrein gibt der Kreuzbandriss jeglichen selbstherrlichen Tendenzen in ihm den Rest. Eine neue Bescheidenheit hält Einzug.
Auer verzweifelt nicht an der Erkenntnis, dass eine Fußballerkarriere jederzeit von heute auf morgen vorbei sein könnte. Er versteht sie als Herausforderung. Eben noch von Tausenden bejubelt und plötzlich gähnende Leere. In dieses Loch möchte er am Ende seiner Laufbahn nicht fallen. Während der Reha macht sich Auer erstmalig Gedanken über die Zeit nach dem Fußball. Als er nach seiner Genesung wieder ins Mannschaftstraining einsteigt, ist aus einer vagen Idee ein festes Vorhaben geworden.
Jenseits des Tellerrands
Neun Jahre später ist Auer in seiner Zukunftsplanung an einem Punkt angelangt, an dem er die Fußballschuhe getrost an den Nagel hängen könnte. Drei Reha-Studios betreibt der 29-Jährige in seiner pfälzischen Heimat. Jederzeit stünde der Posten des Geschäftsführers in einer der Einrichtungen für ihn bereit. Die Grundvoraussetzung dafür, ein Diplom in Fitness-Ökonomie, hat er per Fernstudium erworben. Nach dem Abschluss im Sommer 2008 hat er sich mit Gesundheitsmanagement gleich noch für einen zweiten Studiengang eingeschrieben.
Längst ist der Blick über den fußballerischen Tellerrand für Auer zu einer Passion geworden. Ständig ist er auf der Suche nach neuen Erfahrungen. Er wolle einfach etwas für den Kopf tun, sagt er, nicht verblöden. Er spricht von Selbstverwirklichung.
Fast wirkt es so, als sei der Fußball ein Hemmschuh für diese Erweiterung seines Horizonts. Etwa, wenn Auer vom Reisen erzählt. Alljährlich zieht es ihn mit Ehefrau Sabrina in die Ferne. Entspannung am Strand suchen die Auers eher selten. Mal genießen die beiden die unberührte Natur, mal erforschen sie das kulturelle Angebot des jeweiligen Landes. Thailand und Tansania, Kenia und Kambodscha: Bei der Auswahl des Urlaubszieles sind ihnen keine Grenzen gesetzt.
Bei der Auswahl des Urlaubszeitpunktes hingegen schon. Durch Bennys Beruf ist dieser auf die spielfreie Zeit reduziert. Während der Saison bleiben allenfalls Tagesausflüge. Selbst die Hochzeitsreise fand gezwungenermaßen im Sommer statt. Für die Dauer seiner Laufbahn kann sich Auer mit dieser Situation arrangieren. Entsprechend anders lautende Reisepläne verschiebt er auf später.
„Das mache ich nach dem Fußball.“ Benny Auer sagt diesen Satz häufig. Selten schwingt beim Erwähnen des Karriereendes Bedauern mit; weit häufiger Vorfreude. Früh hat er sich dank des Kreuzbandrisses um eine Zukunftsperspektive kümmern müssen. Die Verletzung ist für Auers persönliche Entwicklung extrem wichtig gewesen.
Doch hat dieser „Glücksfall“ nicht auch eine enge emotionale Bindung zur aktuellen Tätigkeit verhindert? Der Fußball scheint für Auer nicht mehr als einen Abschnitt seines Lebens darzustellen, relativ kurz und definitiv endlich. Dass er seinen Beruf mehr mit dem Kopf als mit dem Herzen ausübt, spüren auch die Fans. Allen guten Leistungen zum Trotz hat es Auer in seiner bisherigen Zeit bei der Alemannia nicht zum Publikumsliebling geschafft. Zum vielstimmig besungenen Fußballgott erst recht nicht.
Für Team und Ego
Mangelnde Einstellung kann man ihm dabei keineswegs vorwerfen. In seiner zweiten schwarz-gelben Saison hat Auer über weite Strecken als einzige Spitze fungiert, vorne oft auf verlorenem Posten gestanden. Ohne Murren hat er sich in den Dienst der Mannschaft gestellt. Dass er seit Cristian Fiels Rücktritt die Kapitänsbinde trägt, kommt nicht von ungefähr. Auer versteht sich als Führungsspieler.
Wenn es die Situation seiner Meinung nach erfordert, spricht er im Sinne des Teams auch Klartext. Wie nach dem peinlichen Pokalaus in Wehen. Oder nach dem 3:0‑Heimsieg gegen den FSV Frankfurt im vergangenen August. Seinerzeit trat er mit einem Fernseh-Interview eine Lawine los, die an ihrem Ende den Trainer überrollen sollte. Sechs Tage später war dieser seinen Job los.
Auer sieht seine deutlichen Worte nach wie vor als gerechtfertigt; selbst im Hinblick auf die daraus resultierenden Turbulenzen. „Es war bestimmt nicht meine Absicht, Jürgen Seeberger abzusägen“, weist er die Legende vom vorsätzlichen Königsmord weit von sich. Als zu schlecht hatte er das Spiel der eigenen Mannschaft empfunden, als zu groß die Gefahr, dass das klare Ergebnis darüber hinwegtäuschen könnte. Es widerstrebt ihm, Dinge zu beschönigen, die er nicht gut findet.
Öffentliche Ausbrüche wie nach dem Frankfurtspiel bleiben dennoch die Seltenheit. Auf dem Platz lässt Auer am liebsten Tore sprechen. Ob sehenswert versenkt oder schmutzig eingeschoben, ist ihm dabei völlig gleich. Bei der Alemannia erlebt er in dieser Hinsicht eine der erfolgreichsten Phasen seiner Laufbahn. Statistisch gesehen netzt er jede zweite Partie ein. Von den üblichen Unkenrufern bei seiner Verpflichtung als ewiges Talent abgestempelt, hat er sich zu einem Leistungsträger gemausert, bereits mehrere schwarz-gelbe Meilensteine gesetzt.
„Wir Fußballer sind doch alle verkappte Profilneurotiker. Jeder von uns möchte auf seine Weise nachhaltig in Erinnerung bleiben.“
Benny Auer spielt natürlich für sein Team, aber eben auch für den eigenen Wikipedia-Eintrag
Seine sechzehn Treffer am Ende der Saison 2008/09 machten ihn zum ersten Torschützenkönig in der Zweitligahistorie der Alemannia. Zudem geht sowohl das letzte Pflichtspieltor auf dem Tivoli, als auch der erste Heimtreffer im neuen Stadion auf sein Konto. Dass diese Eintragungen in die Geschichtsbücher sein Ego streicheln, gibt der Torjäger ebenso unumwunden wie augenzwinkernd zu. „Wir Fußballer sind doch alle verkappte Profilneurotiker. Jeder von uns möchte auf seine Weise nachhaltig in Erinnerung bleiben.“
Eine tragende Rolle
Schon vor langer Zeit hat Auer aufgehört, sich und sein Schaffen allzu wichtig zu nehmen. Ein gesundes Maß an Selbstkritik hat er sich erhalten. Zu gern erzielt er Tore, als dass ihn vergebene Großchancen kalt ließen. Doch selbst mehrere Spiele ohne Erfolgserlebnis lassen ihn nicht mehr an seinen Fähigkeiten zweifeln. Das ständige Auf und Ab im Tagesgeschäft Fußball bringt ihn nicht aus der Ruhe.
Auch diese Gelassenheit führt Auer auf seine Erfahrungen nach dem Kreuzbandriss zurück. Früh habe er gelernt, jedem negativen Erlebnis positive Aspekte abzugewinnen. Während, wie in der Hinrunde 2009/10, alle Erbsenzähler unter den Journalisten die erfolglosen Minuten hochrechnen, bleibt der Mittelstürmer geduldig. Der nächste Treffer kommt bestimmt. Der nächste Verein nicht.
Nach zwei Monaten zäher Verhandlungen hat sich Benny Auer Anfang Mai für eine Verlängerung seines auslaufenden Kontraktes entschieden. Nur noch wenige Optimisten hatten mit dieser Entwicklung gerechnet. Schließlich hatte sich Auer vor seinem Engagement bei der Alemannia als nicht sonderlich sesshafter Fußballvagabund erwiesen. Doch diesmal hat der Kopfmensch mit dem Herzen entschieden. Seine Wanderjahre enden in Aachen.
Sportdirektor Erik Meijer misst ihm bei der Neugestaltung des Teams eine tragende Rolle zu. Und Auer nimmt die Herausforderung an. Auch weil er nach eigenem Bekunden erstmalig in seiner Karriere eine sportliche Heimat gefunden hat. Im besten Fußballeralter möchte er diese nun zurück nach vorne bringen. Die Zukunft als Fitness-Ökonom wird noch eine Weile warten müssen. Der Kapitän hat für drei Jahre unterschrieben.