Der junge Mann war beträchtlich irritiert. Da war er nun aus dem mehr oder weniger nahen Westfälischen in die westlichste Großstadt Deutschlands gereist, um dort über den wichtigsten Schritt in seiner Sportlerlaufbahn zu verhandeln. Und was passierte? Sein österreichischer Berater Tobandel und dieser Franz Breuer hatten sich den ganzen Vormittag lang über Teppiche unterhalten. Und das ausschließlich.
Nach einem ausgiebigen Mittagessen saß die Runde jetzt wieder bei Breuers zusammen und redete erneut über Auslegware. Da nahm der 23-Jährige seinen gesamten Mut zusammen und ergriff zum ersten Mal das Wort: „Ich dachte, wir sprechen hier über Fußball und meine Anstellung bei ihrem Verein.“ Doch alles, was der hoffnungsvolle Jungkicker erntete, war das Grinsen Tobandels: „Mensch, Peter, das ist doch alles schon geregelt. Wir sind uns einig. Es geht klar.“
Und der Herr Vizepräsident Franz Breuer ergänzte trocken: „160 Mark im Monat sind für Sie hier drin. Prämien extra. Und eine Arbeitsstelle besorgen wir Ihnen auch. Das ist doch wohl in Ordnung.“ 160 Mark? Doppelt so viel wie bisher. Peter Schöngen verschlug es die Sprache und Alemannia Aachen hatte einen neuen Spieler.
Ein gewaltiger Schritt
So wechselte der Verteidiger im Sommer 1966 vom Ligakonkurrenten TSV Marl-Hüls in die alte Kaiserstadt. Für den gebürtigen Marler bedeutete das einen gewaltigen Schritt. „Hüls und die Alemannia spielten zwar beide in der Regionalliga, also in der damals zweithöchsten Spielklasse. Doch der Unterschied zwischen den beiden Vereinen war enorm“, erinnert er sich. Als erstes sollte der Neue das an der Spielerbetreuung merken. Musste er in Marl-Hüls seine sieben Sachen noch selber in Ordnung halten, so nahm ihm in Aachen der Verein fast alles ab. Verwundert rieb er sich die Augen, als er feststellte, dass sogar die Schuhe geputzt wurden.
Der Ruhrgebietsclub „hatte eben nie den Anspruch, ins Oberhaus zu kommen“, erzählt der heutige Ehrenvorsitzende der Blau-Weißen, Heinz Dreßelhaus (76). Bei der Alemannia war das zu der Zeit etwas anderes. Nachdem sie bei der Zusammenstellung der Bundesliga im Jahr 1963 schnöde außen vor gelassen worden waren, war der Aufstieg immer das erklärte Ziel der Kartoffelkäfer gewesen. Das wusste auch Heinz Dreßelhaus: „Die Alemannia galt immer als Verein mit großen Ambitionen. Eine Top-Adresse. Da konnten wir eben kaum mithalten. Wir hatten keine Wahl und mussten Peter schweren Herzens ziehen lassen.“
Die Fünf aus Marl-Hüls
Nicht nur ihn. Peter Schöngen nahm noch einen Kumpel mit: den Mittelfeldmann oder Läufer, wie es damals hieß, Rolf Pawellek. An der Krefelder Straße trafen die beiden gleich auf einen weiteren alten Bekannten. Ein Jahr zuvor war bereits Stürmer Heiner Sell vom Marl-Hülser Jahnstadion an den Tivoli gewechselt. Und den Trainer kannten sie ebenfalls sehr gut: Hennes Hoffmann hatte Sell, Schöngen und Pawellek noch in Hüls trainiert, bevor er zum FSV Frankfurt ging. Auch für ihn war Aachen im Sommer 1966 Neuland. Und auch er brachte mit dem Abwehrmann Christoph Walter einen Spieler aus alten gemeinsamen Tagen mit.
Damit arbeiteten gleich fünf Sportkameraden des TSV Marl-Hüls in der Soers. Eine Tatsache, die das Aachener Karnevalstrio „Die 3 Atömchen“ damals zur seither zigtausendfach gesungenen Zeile in ihrem Schlager „Aber eins, aber eins …“ animierte.
„Wir waren alle zusammen eine Truppe eingeschworener Alemannen.“
Heiner Sell
Bildeten diese eine starke Seilschaft, an der keiner vorbeikam? „In keinem Fall“, verneint Heiner Sell energisch und wirkt dabei äußerst glaubwürdig. „Unsere gemeinsamen Wurzeln spielten keine Rolle. Grüppchenbildung kannten wir nicht. Wir waren alle zusammen eine Truppe eingeschworener Alemannen.“ Nur Jupp Martinelli machte so hin und wieder seine Witze, wenn er in Richtung der Ruhrgebietler betont übellaunig sein „verdammte Ausländer“ grummelte, wie Peter Schöngen zu erzählen weiß.
Wer war denn nun der Drahtzieher der kleinen Massenflucht aus dem Westfälischen ins Grenzland? Schließlich schrieb man die Zeit, in der das Wort Scouting eher zur Pfadfinderei passte und in der ein Coach noch ein Trainer war. An sich war die Sache ganz einfach: Heiner Sell hatte die Jungs empfohlen. Und auf den kopfballstarken Angreifer hörte man bei der Alemannia. Schließlich galt er als einer der besten Stürmer der Liga. Seine Leistungen auf dem Platz und sein integrer Charakter hatten ihn bereits in seinem ersten Jahr zu einer unbestrittenen Führungsfigur am Tivoli gemacht. „Der erzählt keinen Blödsinn. Das ist ein Pfundskerl“, weiß auch Alemannias heutiger Ehrenpräsident Leo Führen.
Und noch mehr Talente
Die Truppe um die Marl-Hülser spielte einen äußerst erfolgreichen Fußball. Am Ende der Saison war der lang ersehnte Aufstieg in die deutsche Eliteliga perfekt. Und der westfälische Kern der Mannschaft blieb lange zusammen: Fast alle sollten viele Jahre das Gesicht des Aachener Fußballs wesentlich prägen. Heiner Sell (163 Einsätze), Rolf Pawellek (184 Einsätze) und Christoph Walter (257 Einsätze) schnürten noch bis in die Siebziger Jahre ihre Stiefel für die Schwarz-Gelben. Peter Schöngen musste im Jahr 1968 nach einem Foul von Jupp Heynckes die Sportinvalidität beantragen.
Nur Trainer Hennes Hoffmann wurde zwischen Pau und Gillesbach nicht glücklich. Nach einer halben Saison wurde er durch Michel Pfeiffer abgelöst. Doch dem Faible der Tivoli-Verantwortlichen für Spieler aus dem Hülser Umfeld tat das keinen Abbruch. So lockten sie 1972 Torwart Schorsch Marwig ins Grenzland. Zwei Jahre später folgte Rolf Kucharski. Auch er ein Talent mit Hülser Vergangenheit, das bei der Alemannia seine größte Zeit erlebte.
Angesichts eines wahren Spielerexodus gen Westen hätte man in Marl-Hüls eigentlich gereizt auf alles Schwarz-Gelbe reagieren müssen. Der örtlich TSV als Selbstbedienungsladen für ambitionierte Aachener? Doch von Animositäten und Neid keine Spur.
„Jeder, der weiterkommen wollte, musste eine solche Chance beim Schopfe packen.“
Manfred Wollenberg, Hülser Urgestein und Mannschaftskamerad einiger späterer Alemannen
„Man muss bedenken, dass für jeden Einzelnen der dorthin gewechselten Spieler das Interesse der Aachener doch ein Glücksfall war. Jeder, der weiterkommen wollte, musste eine solche Chance beim Schopfe packen. Nein, wir haben denen das gegönnt. Das waren ja auch alles feine Kerle. Besonders der Sell“, erinnert sich Manfred Wollenberg. Der heute 76-Jährige ist ein Hülser Urgestein und hat mit einigen der späteren Aachener noch zusammengespielt. „Außerdem haben wir ja damit angefangen. Denn wir haben mit Linksaußen Hans Broichhausen schon 1964 einen Spieler vom Tivoli zu uns geholt“, fügt Ehrenvorsitzender Heinz Dreßelhausen schelmisch hinzu.
Drewer statt Aachen
Und der TSV Marl-Hüls heute? Das Jahnstadion an einem sonnigen, aber kühlen April-Sonntag: Der Blick ins weite Rund lässt einen nachdenklich werden. Denn zu seiner Eröffnung galt das Stadion inmitten eines bürgerlichen Wohngebiets als eine der modernsten Spielstätten Nordrhein-Westfalens. Allerdings war es schon bei der Einweihung im Sommer 1964 mit einem Fassungsvermögen von etwa 36.000 Zuschauern und seiner verwegenen Tribünenkonstruktion reichlich großzügig dimensioniert.
Doch wenigstens pilgerten zu seligen Regionalligazeiten regelmäßig 7.000, manchmal sogar bis zu 12.000 Anhänger durch die Tore des Jahnstadions. Da hießen die Gegner auch noch Alemannia Aachen, VfL Bochum, Borussia Mönchengladbach oder Arminia Bielefeld. Heute geben der VfL Drewer, der SV Zweckel und YEG Hassel ihre Visitenkarten an der Otto-Hue-Straße ab. Und Vereinschef Josef Schröder kann an einem guten Tag 200 Hartgesottene begrüßen. Das Leben in der Bezirksliga ist rau. Der Blick des 61-Jährigen wischt denn auch wehmütig über die Anlage.
Zunächst macht diese einen schmucken Eindruck. Man kann sich gut vorstellen, wie hier einst große Fußballfeste gefeiert wurden. Als die Fotos noch weitestgehend schwarz-weiß waren. Doch im Licht der schönen bunten Digitalwelt wird allzu schnell deutlich: Der Zahn der Zeit hat ausgiebig am gut alten Jahnstadion genagt. Die gesamte Südkurve ist heute ein Graswall. Ein Großteil der Schalensitze auf der Haupttribüne macht einen eher zweifelhaften Eindruck. Der Zugang ist nur noch über die Gegengerade möglich.
Überhaupt ist von den insgesamt fünf rund um das Stadion verteilten Kassen nur noch eine in Betrieb. Der Rest wittert vor sich hin. Die Kantine und die Umkleidekabinen sind in der benachbarten Schule untergebracht. Hier werden an Resopaltischen selbst gebackener Kuchen, Kaffee und Kaltgetränke serviert. Es geht familiär zu. Man kennt sich, man ist unter sich.
Alte Kämpen
Geblieben sind die blau-weißen Trikots der Spieler. Geblieben sind auch ein paar alte Kämpen aus den glorreichen Sechzigern: der bereits erwähnte Manfred Wollenberg, dem man sein Alter nicht ansieht. Oder Rudi Matheus und Fritz Krämer, die viel zu erzählen wissen, aber alles andere als Aufschneider sind. Sie alle haben für ihren TSV große Spiele absolviert, haben für Furore über die Grenzen der Region hinaus gesorgt. Um das Jahnstadion herum bleiben sie unvergessen.
„Wenn eine Flanke in den Strafraum segelte und der Sell stieg hoch, dann konnte man direkt zur Mitte gehen. Das Ding war drin.“
Marl-Hüls-Veteran Rudi Matheus über seinen Mitspieler und späteren Alemannen Heiner Sell
Ihr Ruhm ist nicht verblasst, hat nichts vom traurigen Ferment der Tribünenkonstruktion. Hier sitzen sie also und schwelgen in Erinnerungen. Dann fallen Sätze wie „Auf Mönchengladbach waren wir nie gut zu sprechen.“ „Der Sell, das war eine Identifikationsfigur. An dem konnten sich alle orientieren.“ „Preußen Münster? Deren Läuferreihe war das Beste, was Deutschland zu bieten hatte.“ „Wenn eine Flanke in den Strafraum segelte und der Sell stieg hoch, dann konnte man direkt zur Mitte gehen. Das Ding war drin.“
Warten auf die Alemannia
Und die Zukunft des Vereins? Gibt es eine? Josef Schröder antwortet nicht gerade euphorisch, hat aber klare Vorstellungen: „Wir müssen bescheiden bleiben und jeden Cent zusammenhalten. Vor 40 Jahren dachten realitätsfremde Politiker hier schon einmal über eine 60.000-Mann-Arena nach. Das ist kein Witz. Doch mit solchen Spinnereien sind wir durch. Wenn es jedem Fußballfan möglich ist, innerhalb von maximal 30 Minuten zum BVB, nach Bochum, Essen und Schalke zu kommen, dann backen Sie in den unteren Klassen kleinere Brötchen.“
Hierzu gehört auch die Aufgabe des traditionsreichen, aber völlig unwirtschaftlichen Stadions an der Otto-Hue-Straße. Geplant ist ein Umzug in die kleinere und modernere Wettkampfstätte Loekamp. Dort spielen bereits die zwei Damen- und 19 Jugendmannschaften des Vereins.
„Landesliga ist unser Ziel. Über mehr sollten wir nicht nachdenken. Und dann sind da noch die Highlights der Freundschaftsspiele, wie schon mal gegen Schalke 04. Das bringt dann etwas Geld in die Kassen“, bleibt Präsident Schröder realistisch. Und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Aber vielleicht kommt ja auch die Alemannia einmal im Zuge ihrer Vorbereitung vorbei. In alter Verbundenheit. Da würden sich hier einige freuen.“