In Zeiten schlimmster Tristesse legitimieren sich Traditionsvereine gern mit ihrer prächtigen Historie, erinnern an große Spiele und wackere Recken. Nicht die dümmste Idee, dachte sich IN DER PRATSCH und besuchte mit Bübbes Kehr einen dieser unvergessenen Helden. Gefunden wurden mit dem Tivoli gemeinsam fast verschüttete Geschichten aus einer anderen Fußballzeit.
„Aachen war bekloppt“, fasst Bübbes, der eigentlich und früher einmal Heinz-Josef hieß, seine Jahre am Tivoli mit leichter Be- und Verwunderung für Verein und Stadt sehr kompakt zusammen. „In Aachen gab’s nie Mittelmaß, nur barfuß oder Lackschuh“, erinnert er sich an wilde Zeiten, ruppige Spiele und ein besonderes Publikum. Und es scheint so, als wären Bübbes und der Tivoli eine perfekte Liaison gewesen, denn die umgekehrte Einschätzung des ewigen Stadionsprechers Robert Moonen fällt auffallend ähnlich aus: „Der Bübbes? Dat war ’ne Bekloppte.“ Doch dass beide zusammenfanden, war, wie so oft, dem Zufall geschuldet.
Spätes Glück
Kehr war schon 25 Jahre alt und verschwendete bereits seit Längerem keinen Gedanken mehr an eine Profikarriere. Der jüngst gegründete 1. FC Köln hatte sich nach einem Probetraining für einen anderen entschieden, der Stadtrivale Fortuna bot ihm in Person von Jean Löring monatlich karge 500 DM – weniger als Kehrs damaliges Maschinenschlossergehalt. Als Amateur konnte er aber neben seinem Beruf beträchtliche Prämien einheimsen, die ihm der SC Brühl 06/45 für seine zahlreichen Tore zahlte – Tore, die den Verein bis zu Spielen um die deutsche Amateurmeisterschaft führten. Rückblickend sagt Bübbes jedoch, er habe „im Amateurfußball viel Zeit verschenkt“.
„Beim Fünf gegen Zwei hab ich richtig aufgeräumt, ich lass mich doch nicht verarschen.“
Die richtige Gelegenheit bot sich für ihn eben erst im Sommer 1976. Brühl gastierte zum Testspiel gegen die von Jupp Martinelli trainierte Westwacht am Tivoli. Alemannias Trainer Gerd Prokop sah den Vollblutstürmer und rief ausnahmsweise nicht „Fut, du bis ene Selvstorspezialist“, sondern Bübbes zwecks Probetrainings an. Und dort zeigte er erstmals diese ihm eigene Durchsetzungskraft, die sein Markenzeichen werden sollte – und am Tivoli so gut ankam: „Beim Fünf gegen Zwei hab ich richtig aufgeräumt, ich lass mich doch nicht verarschen. Danach hatten die Respekt.“
Foto: Zeitungsverlag Aachen
Im abschließenden Trainingsspielchen machte er vier Kisten und unterschrieb dann doch noch seinen ersten Profivertrag. „Prokop hat mir das Vertrauen gegeben, seine Nummer Eins zu sein, sonst hätte ich das nie gemacht“, beschreibt er seine anfängliche Skepsis, das sichere Leben aufzugeben. Auffällig oft begründet Bübbes seine Entscheidungen mit Argumenten wie Vertrauen, Harmonie oder Anerkennung – und man mag es ihm als heutiger Kunde einer gescheiterten GmbH nur allzu gern abkaufen.
Stellvertretend dafür steht eine kleine Anekdote, die in Zeiten heutiger Spielergehälter fast lächerlich klingen mag: Prokop wusste, dass sein Feuerzeug Bübbes besonders gefiel, und versprach es ihm für den Fall, dass er im ersten Spiel in Schwarz-Gelb träfe. Kehr rackerte und rannte 90 Minuten auf das von Uli Stein gehütete Bielefelder Tor an. Ein Treffer blieb ihm jedoch verwehrt, und das Spiel ging 0:1 verloren. Das Feuerzeug, man ahnt es bereits, bekam er in Anerkennung seines Einsatzes trotzdem. Diese Story aus dem Drehbuch eines unbegabten Regisseurs nimmt man ihm wegen seiner leuchtenden Augen dennoch ab und man würde sich auch nicht wundern, wenn er nun das Feuerzeug aus der Tasche zöge. Er tut es nicht.
Dieses Vertrauen zahlte Kehr alsdann mit herausragenden Leistungen zurück. In der ersten Saison machte er 37 von 38 Spielen und schoss dabei 23 Ligatore, nur Franz Gerber von St. Pauli machte mehr. „Der hat aber ja auch Elfmeter geschossen“, mosert Kehr – selbst heute noch nicht ganz glücklich mit dem zweiten Platz in der Torjägerliste. Abgesehen von diesem kleinen Schönheitsfehler lief es prächtig. Bübbes Kehr war beeindruckend im Profifußball angekommen; die Atmosphäre am Tivoli hatte ihn gepackt, bei jedem Spiel hatte er „Gänsehaut beim Einlaufen“. Und die gegnerischen Abwehrreihen hatten mittlerweile Gänsehaut, wenn der Brecher gegen sie anrannte.
Hin und her
Es mag heute unvorstellbar klingen, doch in den 70er-Jahren plagten die Alemannia oft auch finanzielle Sorgen. Und darum endete Kehrs erstes Gastspiel auf dem Tivoli bereits nach der Premierensaison. Er wurde für die damalige Rekordsumme der zweiten Liga von 500.000 DM zum Bundesligaabsteiger Tennis Borussia Berlin verkauft. „Da hat der Egon Münzenberg sich kaputtgelacht“, kommentiert Bübbes heute noch süß-säuerlich das damalige Geschehen.
Als kleines Dankeschön schoss er das erste Tor für seinen neuen Arbeitgeber direkt im ersten Spiel – natürlich gegen Alemannia Aachen. Er traf für TeBe in dieser Saison 18 Mal, wurde in Berlin aber nie richtig heimisch und merkte schnell, dass sich der Club auf dem absteigenden Ast befand. Mit einem zweiten Coup holte Münzenberg Kehr nur ein Jahr später wieder zurück an den Tivoli, diesmal direkt im Paket mit Winnie Stradt.
Prokop war mittlerweile Vereinsgeschichte, Nachfolger Erhard Ahmann sollte Bübbes Karriere bis zum Ende prägen. Und Kehr startete, als wäre er nie weg gewesen. Keine 17 Minuten im schwarz-gelben Trikot, traf er in einem Vorbereitungsspiel schon wieder und auch im ersten Pflichtspiel durfte er eins bejubeln. In allen Liga- und Pokalspielen eingesetzt, erzielte er wieder reichlich Tore.
„Ein klasse Typ“
„Er war halt ein typischer Mittelstürmer der Siebziger“, erinnert sich Bernd Hoogen, Mannschaftskamerad und damaliger Nachwuchstorwart. „Technisch eher limitiert, aber sehr robust, immer hundert Prozent und unheimlich kopfballstark.“ Bübbes selbst sieht die Sache mit der Technik ganz ähnlich: „Es passierte auch schon mal, dass ich den Ball kurz vor der Torlinie meterweit drüber drosch, während ich ein anderes Mal von der Seitenlinie aus traf“, umschreibt er seine etwas unorthodoxe Spielweise.
Foto: Imago
Die uneitle Erklärung dazu lautet, dass er es ohne den Einsatz eben nie so weit gebracht hätte: „In Brühl hatten viele Jungs mehr Talent als ich, die sind aber an der Disziplin gescheitert.“ Und auf Nachfrage nach Details: „Gescheitert sind die an den Weibern – Saufen und Autos kamen ja erst, wenn sie schon Geld verdient hatten.“ Zumindest das scheint sich nie zu ändern. Aber Kampf und Wille allein reichte auch am Tivoli nicht aus, um es in die „Hall of Fame“ zu schaffen. Wichtig für die Aachener Fanseele war immer auch gefühlte Identifikation mit Verein und Stadt.
Beides nahm man Kehr ab. Er war in der Mannschaft genauso beliebt wie bei den Fans, er war „einfach ein klasse Typ“, resümiert Bernd Hoogen. Darüber hinaus begleitete Bübbes immer die Sorge, für arrogant gehalten zu werden. Und so ließ er sich nach den Spielen fast immer bei Cortis, der beliebten Fankneipe gegenüber dem Stadion, blicken, auch nach Niederlagen.
Und obwohl er sich nach schlechten Spielen den einen oder anderen bissigen Kommentar gefallen lassen musste, kam sein „offenes Visier“, wie er es selbst häufiger bezeichnet, natürlich an. „Ich hätte in der Kneipe im Grunde kein Portemonnaie gebraucht“, ist er sich sicher. Aber unproblematischer machte das die Sache nicht, denn „trinkst du nicht mit, halten sie dich für hochnäsig. Trinkst du aber mit und spielst nächste Woche schlecht, heißt es: Klar, wie der säuft“. Und seine Popularität war mitnichten auf die Krefelder Straße beschränkt. Seine kompromisslose Arbeitsauffassung führte auch schon dazu, dass man „im Kaufhof mal nur fünf statt 15 Mark bezahlen musste, wenn die Verkäuferin dich erkannt hat“.
Sogar Geld wurde ihm zugesteckt, das er aber nach eigenen Angaben immer in die Mannschaftskasse legte, denn sein leicht angestaubt klingendes Credo lautet: „Ich bin nix ohne die, die sind nix ohne mich.“ Es lief gut für und mit Bübbes Kehr am Tivoli, auch noch in der Hinrunde 1979/80, wo er wieder verlässliche neun Tore trat und köpfte.
Im Januar 1980 war die Saison für ihn vorzeitig zu Ende, sogar die Karriere war gefährdet. Vom Auswärtsspiel beim DSC Wanne-Eickel kam er mit einem Innenbandab- und Kapselriss nach Hause. „Die dachten alle, ich komme nicht wieder“, erinnert er sich, warum die Alemannia ihm dann im Sommer mit Norbert Runge vom Erstligisten Borussia Dortmund prominenten Ersatz vor die Nase setzte.
Erhard Ahmann
Doch Bübbes Kehr kämpfte sich, natürlich, mag man denken, wieder ran. Im August war er wieder da, bekam nun allerdings nicht mehr die Einsatzzeiten wie vorher, während Runge, wohl auch seines Gehalts wegen, gesetzt war. Das Publikum war aber wie so oft anderer Meinung als der Trainer, wollte lieber Bübbes sehen und skandierte das im Spiel gegen Hannover 96 offen und frühzeitig. Nach bereits 25 Minuten brachte Ahmann Kehr für den bis dato sogar recht erfolgreichen – und in diesem Spiel nicht verletzten – Runge. Alemannia gewann das Spiel vor rappelvoller Hütte durch zwei Kehr-Tore 2:1 und war erstmals Tabellenführer. „Ab da wusste ich, dass Ahmann es sehr schwer haben wird“, kennt Kehr die Öcher Volksseele.
„Im Training hat man sich geprügelt und danach zusammen ein Bier getrunken.“
Aber die Zeiten hatten sich geändert. Im Sturm gab es heftige Konkurrenz, Runge und Arno Wolf machten in dieser Saison zusammen 22 Tore. Im Mittelfeld spielte ein gewisser Hubert Clute-Simon, von dem selbst reichlich Torgefahr ausging. Kehr war nicht mehr der Alleinunterhalter. Den härteren Konkurrenzkampf merkte man im Training, wo teilweise brutal getreten wurde, selbst Schlägereien innerhalb der Mannschaft gab es. „Man hat sich geprügelt und danach zusammen ein Bier getrunken“, scheint Kehr dies nicht ungewöhnlich zu finden.
Er trainierte drei Tage mit einem angebrochenen Fuß, ließ sich von der Ehefrau bandagieren und nahm Schmerzmittel, um aufgestellt zu werden. Auch auf dem Platz ging es ordentlich zur Sache, schließlich war es die Qualifikationssaison zur eingleisigen zweiten Liga. Im Vergleich dazu findet Kehr „das Spiel heutzutage fast körperlos“. Und auf den Rängen erlebte der Tivoli wohl eine seiner heißesten Spielzeiten.
Foto: Imago
Es war die Konfettisaison, Fußball war noch Fußball und die Fans waren nicht gerade zimperlich. Gegnerische Spieler wurden regelmäßig auf das Übelste beleidigt und auch gern mal beworfen. Und Bübbes sollte recht behalten, auch Trainer Ahmann wurde immer öfter zur Zielscheibe des Unmuts.
Obwohl die Alemannia am Ende mit einem fünften Platz die Qualifikation locker schaffte, waren „Ahmann raus“-Rufe keine Seltenheit – nach dem sechsten Spieltag der nächsten Saison war dann Schluss. Doch auch mit neuem Mann an der Linie lief es für die Alemannia nicht gut in der ersten Saison der eingleisigen zweiten Liga. Vier Trainer benötigte man, mehr als Platz 9 sprang nicht raus. Auch Kehr fand nicht mehr richtig in die Erfolgsspur und traf in der Hinrunde nur ein einziges Mal.
Als Erhard Ahmann im März als Manager zurückkam – ein „Ahmann, bleib, wo du bist“-Banner im Spiel davor zeugt von der Begeisterung der Fans –, wusste Bübbes, dass wegen der Umstände von damals seine Zeit am Tivoli nun abgelaufen war. Das Spiel im Februar 1982 auf dem Tivoli gegen den VfL Osnabrück sollte sein letzter Auftritt gewesen sein. Trainer Buhtz teilte ihm mit, dass er nicht mehr mittrainieren brauche. Anstatt den Vertrag auszusitzen, wechselte er für sein letztes Profijahr zu Rot-Weiss Essen und beendete mit 32 Jahren seine kurze, aber intensive Laufbahn nach sieben Jahren.
Ein Leben nach dem Fußball
Foto: Carl Brunn
Im Anschluss hatte er enorme Probleme, wieder zurück in den Alltag zu finden. Keiner wollte ihn in seiner Heimat als Maschinenschlosser einstellen, weil er als Star die Betriebsruhe durcheinanderbringen könnte. Auf dem Arbeitsamt kam seine kompromisslose Art weniger gut an als auf dem Tivoli. „Was kann ich dafür, dass ich mehr Arbeitslosengeld bekomme, als du verdienst“, fragte er den Sachbearbeiter, der ihm daraufhin erst einmal Hausverbot erteilte. Ohne 1983 ahnen zu können, in welchen Zukunftsmarkt er einsteigt, entschloss er sich zu einer Umschulung zum Anwendungsprogrammierer und fand auch beruflich sein Glück.
Bübbes Kehr ist nun 62 Jahre alt und wenn er heute über Fußball spricht, schwingt mehr als nur ein Hauch Wehmut mit. Er verfolgt zwar noch den Werdegang der Alemannia, Kontakt gibt es aber nur noch privat zu seinem ehemaligen Mitspieler Jo Montanes, zum Verein gar nicht. Zum Abschied vom Tivoli war er da, aber „die kannten mich nicht mehr“, stellt er ernüchtert fest.
Zum 1.000. Zweitligaspiel wurde er nicht mehr eingeladen, obwohl er da noch der Spieler war, der die meisten Tore für die Alemannia in der zweiten Liga erzielt hat. Erst Benny Auer konnte ihm diesen Rekord abluchsen. Und wie damals kann er sich auch jetzt nicht gut mit dem zweiten Platz anfreunden und verweist darauf, dass der neue Rekord ja nicht mehr in „seinem“ Stadion stattfand.
Trotz der Distanz geht ihm die aktuelle sportliche Entwicklung nah: „Der Abstieg der Alemannia tut mir richtig weh – Aachen gehört immer noch mein Herz.“ Beim Abschied von Bübbes Kehr erahnen wir, warum sein Name am Tivoli nie richtig verblasste: Klar, nebenbei war er lange Alemannias bester Zweitliga-Torschütze aller Zeiten. Aber er war auch ein Charakter, wenn vielleicht auch kein leichter. Er war authentisch.
Und er hatte eine Auffassung von seinem Beruf und vom Umgang mit Verein und Fans, den es damals nicht oft gab und heute längst nicht mehr gibt – wie das Stadion, in dem er spielte.